Leitsatz (amtlich)
1. Zur Vorteilsausgleichung im Rahmen eines Anspruchs auf Differenzschadensersatz nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 2 EG-FGV.
2. Durch die auf Geltendmachung des großen Schadensersatzes gerichtete Klage, gestützt auf § 826 BGB, wird auch der der Anspruch auf den Differenzschadensersatz nach § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB gehemmt. Dies gilt auch dann, wenn die Klage auf den großen Schadensersatz nur Zug-um-Zug gegen Rückgabe des Fahrzeuges begehrt worden war und später - hilfsweise - unter Fallenlassen der Zug-um-Zug-Einschränkung der Differenzschadensersatz begehrt wird.
Normenkette
BGB § 199 Abs. 3 S. 1 Nr. 1, § 204 Abs. 1 Nr. 1, §§ 213, 823 Abs. 2; EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1; Verordnung (EG) Nr. 715/2007 Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2 S. 1
Verfahrensgang
LG Stuttgart (Urteil vom 10.12.2021; Aktenzeichen 8 O 432/21) |
Tenor
I. Auf die Berufung der Klagepartei wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 10.12.2021 wie folgt abgeändert:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klagepartei 4.235,00 EUR zu zahlen nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 24.10.2023.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Im Übrigen wird die Berufung der Klagepartei zurückgewiesen.
III. Von den Kosten der ersten Instanz tragen die Klagepartei 78% und die Beklagte 22%. Von den Kosten der zweiten Instanz tragen die Klagepartei 79% und die Beklagte 21%.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das erstinstanzliche Urteil ist - soweit nicht abgeändert - ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.
Beschluss
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 19.261,58 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Von der Darstellung des Tatbestandes wird abgesehen (§ 313a Abs. 1 Satz 1, § 540 Abs. 2 ZPO).
II. Die zulässige Berufung der Klagepartei hat in der Sache teilweise Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet.
1. Der mit dem neuen Klageantrag I. geltend gemachte Differenzschadensersatz ist zu dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Der Anspruch steht der Klagepartei aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu (a.), wobei diesen der Senat nach § 287 ZPO mit 10% des Kaufpreises bemisst (b.). Die Klagepartei muss sich im Rahmen der Vorteilsausgleichung den Veräußerungserlös und die gezogenen Nutzungen schadensmindernd anrechnen lassen, sofern diese den objektiven Fahrzeugwert erreichen, was vorliegend aber nicht der Fall ist (c.). Das erst nach der Weiterveräußerung des Fahrzeuges freigegebene Software-Update wirkt sich nicht schadensmindernd aus (d.). Die von der Beklagten erhobene Einrede der Verjährung greift nicht (e.). Ein vorsätzlich sittenwidriges Verhalten wird von der Klagepartei nicht mehr behauptet (vgl. Protokoll vom 14.12.2023), sodass Ausführungen zu § 826 BGB nicht veranlasst sind.
a. Der Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV unter Berücksichtigung der unionsrechtskonformen Auslegung der Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der zugrundeliegenden Rahmenrichtlinie 2007/46/EG i.V.m. Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 nach den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs (vgl. EuGH, Urteil vom 21.03.2023 - C-100/21) ist begründet, da das Fahrzeug zum Zeitpunkt des Abschlusses des Kaufvertrages über zwei unzulässige Abschalteinrichtungen im Sinn von Art. 5 Abs. 2 Satz 1 VO (EG) Nr. 715/2007 verfügte (aa.), so dass die Beklagte als Herstellerin des Fahrzeuges eine unzutreffende Übereinstimmungsbescheinigung ausgestellt und damit gegen § 6 Abs. 1 und § 27 Abs. 1 EG-FGV verstoßen hat (vgl. BGH, Urteil vom 26.06.2023 - VIa ZR 335/21, juris Rn. 34). Dabei handelte die Beklagte allerdings nur hinsichtlich der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung (KSR) schuldhaft (bb.).
aa. Das Fahrzeug hat zum Zeitpunkt des Abschlusses des Kaufvertrages - unstreitig - zwei Abschalteinrichtungen im Sinn von Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2 Satz 1 VO (EG) Nr. 715/2007 aufgewiesen, eine temperaturgesteuerte Abgasrückführung (AGR), sog. Thermofenster, (1) und eine KSR (2). Für darüberhinausgehende weitere Abschalteinrichtungen sind tatsächliche Anhaltspunkte nicht ersichtlich.
(1) Die temperaturgesteuerte AGR stellt bereits auf Grundlage des Vortrages der Beklagten eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinn von Art. 3 Nr. 10, 5 Abs. 2 Satz 1 VO (EG) Nr. 715/2007 dar. Zu dem für die Haftung maßgeblichen Zeitpunkt des Kaufvertragsabschlusses wurde AGR in dem streitgegenständlichen Fahrzeug bereits unterhalb von +7°C reduziert.
(a) Die AGR muss als Emissionskontrollsystem unter normalen Betriebsbedingungen, die beim normalen Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, im Sinn von Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 1 VO (EG) Nr. 715/2007 uneingeschränkt wirksam sein. Andernfalls handelt es sich um eine Abschalteinrichtung. Diese normalen Betriebsbedingungen umfassen die tatsächlichen Fahrbedingungen, wie sie im Unionsgebiet üblich sind (vgl. EuGH, Urteil vom 14.07.2022, C-128/20, Rn. 40), so dass zu ihne...