Verfahrensgang
LG Stuttgart (Urteil vom 21.09.2021; Aktenzeichen 3 O 281/20) |
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 21.09.2021, Az. 3 O 281/20, wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Dieses Urteil und das mit der Berufung angefochtene Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Streitwert des Berufungsverfahrens: 130.856,24 EUR.
Gründe
Der Kläger nimmt den beklagten Berufsunfähigkeitsversicherer auf Leistung und Feststellung des Fortbestands des Versicherungsvertrags nach beklagtenseits erklärtem Rücktritt (§ 19 VVG) in Anspruch. Die Beklagte begehrt hilfswiderklagend, für den Fall der Unwirksamkeit des Rücktritts, die Feststellung, dass der Versicherungsvertrag durch Kündigung beendet worden sei.
Unter dem 19.11.2015 beantragte der Kläger den Abschluss einer "...Berufsunfähigkeit..." (Anl. B 1), wobei die Antragstellung über die M... AG erfolgte.
Zum Zeitpunkt der Antragstellung war dem Kläger unter anderem bekannt, dass er nicht mehr rennen konnte und dass sein rechtes Bein nach ca. 1-2 km Wegstrecke ermüdete und das rechte Fußgelenk zu schmerzen begann. Teilweise schwoll das Bein bei längerer Wegstrecke an und musste gekühlt werden. Bei dem Kläger war im Jahr 1996 eine Erkrankung an Multipler Sklerose diagnostiziert worden. 1994 hatte er sich das rechte Sprunggelenk gebrochen, was zu einer Verknöcherung des Gelenks geführt hatte. Vor geraumer Zeit - 1998 oder 2000 - erlitt der Kläger zudem einen Splitterbruch des rechten Handgelenks. Zur Zeit der Antragstellung litt der Kläger in einer bestimmten Handstellung unter einem Kraftverlust, zudem bestanden Sensibilitätsstörungen in der rechten Hand.
Die auf dem Antragsformular der Beklagten gestellten Gesundheitsfragen verneinte der Kläger dennoch sämtlich. So verneinte der Kläger insbesondere auch die Fragen 5) g) und 6), welche lauten:
[...]
Die Fragen beziehen sich auf die letzten 5 Jahre:
Nr. 5 Sind oder waren Sie bei Ärzten, Heilpraktikern, Physio-, Psychotherapeuten oder sonstigen nichtärztlichen Therapeuten in Beratung, in Behandlung oder zur Untersuchung wegen Krankheiten oder Beschwerden in folgenden Bereichen:
[...]
g) Psyche, Gehirn, Nervensystem (z.B. Depressionen, Bulimie, Suizidversuch, Multiple Sklerose, Migräne)?
Nr. 6 Haben Sie derzeit oder hatten Sie in den letzten drei Monaten Beschwerden in einem der unter Nr. 5) a) - i) genannten Bereiche?
Am 09.01.2019 meldete der Kläger bei der Beklagten Ansprüche aus der Berufsunfähigkeitsversicherung an. Dazu teilte er unter dem 19.09.2019 mit, an Multipler Sklerose erkrankt zu sein und unter Beeinträchtigungen der Sensibilität, der Geh- und Stehfähigkeit, der Bewegungsfähigkeit und Kraft an allen Gliedmaßen und dem Rücken zu leiden (Anl. B 2). Die Beklagte holte ärztliche Berichte von Dr. B. und Dr. M. ein, welche diese unter dem 18.11.2019 (Anl. B 9), bzw. dem 16.12.2019 (Anl. B 4) erstatteten. Mit Schreiben vom 15.01.2020 (Anl. B 1) erklärte die Beklagte den Rücktritt gemäß "§§ 19ff Versicherungsvertragsgesetz" und führte zur Begründung aus, dass der Kläger bei seiner Antragstellung die in Frage 6) mit 5) g) abgefragten Beschwerden, namentlich die seit 1996 bestehende Gefühlsstörungen in der rechten Hand und die Ermüdungserscheinungen im rechten Bein vorsätzlich, jedenfalls aber grob fahrlässig nicht angezeigt habe. Die Beklagte blieb auch nach Einschaltung der Klägervertreter bei ihrer Ablehnung.
Der Kläger, der erstinstanzlich wie im Berufungsverfahren beantragt hat, ist unter anderem der Auffassung, dass er bereits objektiv keine Anzeigeobliegenheit verletzt habe. Dies scheitere schon daran, dass die offene Frage nach "Beschwerden" unzulässig sei, weil mit ihr wegen der Unklarheit des Begriffs der Beschwerde eine unzulässige Risikoverlagerung auf den Versicherungsnehmer einhergehe. Selbst wenn man die Frage für wirksam gestellt halte, habe der Kläger sie schon objektiv nicht falsch beantwortet. Der Kläger habe sich bei Antragstellung völlig gesund gefühlt. Die MS-Erkrankung, welche sich damals in einer rechtsseitigen Gefühlsstörung geäußert habe, habe schon 1996 keine nennenswerten Beeinträchtigungen hervorgerufen. Nach fast 20 symptomfreien Jahren habe er an diese bei Antragstellung nicht mehr gedacht. Das Ermüden des rechten Beines habe er nicht auf die MS-Erkrankung, sondern auf eine insgesamt schlechte und nicht gut trainierte körperliche Verfassung zurückgeführt. Tatsächlich sei dieser Umstand, der auch nicht gefahrerheblich sei, auch objektiv nicht anzeigepflichtig. Erst durch den Besuch bei Dr. L. im Jahr 2016, bei dem es sich nur um einen Check-Up gehandelt habe, sei ihm die MS-Erkrankung wieder in Erinnerung ...