Rn 37
Geeignete Sätze der Lebenserfahrung, die für ein Verschulden eines der Beteiligten sprechen, finden sich va im Straßenverkehrsrecht (ausf Janeczek ZfS 15, 244 ff; Reimer NZV 18, 258 ff; Laumen MDR 20, 1345 ff, 1415 ff). So spricht das Auffahren auf ein Fahrzeug dem ersten Anschein nach dafür, dass der Fahrer fahrlässig gehandelt hat, weil er entweder keinen ausreichenden Sicherheitsabstand eingehalten, zu schnell gefahren oder auf eine Geschwindigkeitsverminderung des Vorausfahrenden zu spät reagiert hat (BGH NJW 89, 670, 671 [BGH 14.06.1988 - X ZR 5/87]; MDR 07, 717 [BGH 16.01.2007 - VI ZR 248/05]; für auffahrenden Radfahrer Schlesw NJW-RR 23, 1334 [OLG Schleswig 27.04.2023 - 7 U 214/22]). Dieser Anscheinsbeweis ist erschüttert, wenn der Vorausfahrende ohne zwingenden Grund (Frankf NJW 07, 87, 88 [OLG Brandenburg 17.01.2006 - 10 UF 91/05]) oder zur Disziplinierung des Auffahrenden (München NJW-RR 22, 1113 [OLG München 11.05.2022 - 10 U 2165/21]: Wechsel von Abbremsen und Beschleunigen; LG Potsdam MDR 20, 921 [LG Potsdam 14.05.2020 - 2 O 26/18]) scharf gebremst hat (abw etwa Hamm ZfS 19, 77, 78: Fahrer müsse auch ein plötzliches scharfes Abbremsen einkalkulieren), gewendet hat (Ddorf MDR 15, 1362), zurückgerollt oder rückwärts gefahren (Hamm ZfS 01, 355), seinerseits aufgefahren ist (Ddorf VersR 99, 729, 730) oder kurz zuvor einen Fahrbahnwechsel vollzogen hat (BGH MDR 11, 157 – Überholvorgang kurz vor Autobahnausfahrt; ausf zum Auffahrunfall Quaisser NJW-Spezial 11, 585 f; Baumgärtel/Laumen Bd 1 Kap 17 Rz 172 ff). Bei einem Fahrbahnwechsel greift ein Anscheinsbeweis auch ansonsten nur dann ein, wenn unstreitig oder bewiesen ist, dass beide Fahrzeuge so lange in einer Spur hintereinander hergefahren sind, dass sich beide Fahrzeugführer auf die vorangegangenen Fahrbewegungen einstellen konnten und es dem Auffahrenden möglich gewesen ist, einen ausreichenden Sicherheitsabstand aufzubauen bzw. einzuhalten (BGHZ 192, 84, 86 ff = NJW 12, 608, 609; NJW 17, 1177 Rz 10 ff m Anm Geipel = Bespr Laumen MDR 17, 443 [BGH 13.12.2016 - VI ZR 32/16] = Bespr Reimer NZV 18, 258 ff; München NJW-RR 22, 893 [OLG München 09.02.2022 - 10 U 1962/21]; Schlesw NJW 23, 370 [OLG Schleswig 07.10.2022 - 7 U 51/22]; ausf Neumann NJW 23, 332 ff). Steht dagegen fest, dass sich der Auffahrunfall in einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einem Fahrstreifenwechsel ereignet hat, ist der Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden auf jeden Fall entkräftet (Ddorf DAR 20, 28, 29).
Ein Anscheinsbeweis zulasten des Auffahrenden greift grds auch bei Kettenauffahrunfällen ein, wobei es allerdings häufig am typischen Geschehensablauf fehlen wird (vgl Staab, DAR 15, 241, 245 f; Janeczek, ZfS 15, 244, 245 f; vgl auch Hamm NJW-RR 21, 693, 696 Rz 72 – Anscheinsbeweis von vornherein ausgeschlosssen). Ein Anscheinsbeweis spricht jedenfalls dann zulasten des Auffahrenden, wenn feststeht, dass das ihm vorausfahrende Fahrzeug des Geschädigten rechtzeitig hinter seinem Vordermann zum Stehen gekommen ist und nicht durch einen Aufprall auf das vorausfahrende Fahrzeug den Bremsweg des ihm folgenden Fahrzeugs verkürzt hat (Kobl NJW-RR 21, 280, 281 [OLG Koblenz 16.11.2020 - 12 U 207/19] Rz 14; LG Osnabrück ZfS 22, 316). Beim Auffahren einer Straßenbahn ist der Anscheinsbeweis nur anwendbar, wenn feststeht, dass der Abstand zwischen Straßenbahn und PKW zum Zeitpunkt der gebotenen Reaktionseinleitung so groß war, dass unter normalen Umständen eine räumliche Vermeidung des Unfalls durch Abbremsen der Straßenbahn möglich war (Ddorf MDR 18, 864 f [OLG Düsseldorf 05.12.2017 - I-1 U 33/17]).
Rn 38
Bleibt bei einem Zusammenstoß zwischen zwei Fahrzeugen ungeklärt, ob der Unfall durch ein Zurücksetzen oder ein Auffahren erfolgt ist, fehlt es jedoch an der tatsächlichen Grundlage für eine Anwendung des Anscheinsbeweises (Hamm NJW-Spezial 10, 297). Das Gleiche gilt, wenn das Auffahren nicht auf die Rückfront des vorausfahrenden Fahrzeugs erfolgt, sondern ein seitlicher Aufprall vorliegt (vgl KG NZV 10, 468 [KG Berlin 31.08.2009 - 12 U 129/09]; München NJW-Spezial 18, 523 [BGH 04.07.2018 - IV ZR 121/17]). Es muss vielmehr stets zumindest eine Teilüberdeckung von Front und Heck gegeben sein (KG NJW-RR 14, 1181, 1182 [OLG Karlsruhe 15.04.2014 - 9 U 135/13]). Ein Anscheinsbeweis für das Verschulden des Fahrers ist ferner dann anzunehmen, wenn er ohne erkennbaren Grund von der Fahrbahn abkommt und auf die Gegenfahrbahn gerät (BGH NJW-RR 86, 383; Hamm MDR 15, 1292 f [OLG Celle 05.03.2015 - 6 U 101/14] – Zusammenstoß zweier Motorräder; zur Erschütterung dieses Anscheinsbeweises vgl BGH NJW 96, 1828), wenn er auf regennasser (BGH VersR 71, 439), vereister (BGH VersR 69, 895), schneeglatter Fahrbahn (BGH VersR 71, 842, 843; Frankf NJW-RR 16, 278, 279 Rz 18) oder allgemein in einer Verkehrslage, die bei ordnungsgemäßer Fahrweise ohne weiteres zu meistern gewesen wäre (BGH VersR 64, 532 [BGH 04.02.1964 - VI ZR 243/62]) ins Schleudern gerät, wenn es in einem unmittel...