Rn 16
Anders als in den Ziff 1 und 2 wird die Befugnis zum Vortrag neuer Tatsachen hier nicht durch einen Fehler des Gerichts eröffnet. Erforderlich ist lediglich, dass die Nichtgeltendmachung in 1. Instanz nicht auf Nachlässigkeit der Partei beruht. Nachlässig handelt die Partei, wenn sie Tatsachen nicht vorträgt, die ihr bekannt sind und deren Bedeutung für die Entscheidung sie kennt oder zumindest hätte kennen müssen (BGH NJW 04, 2152 [BGH 19.03.2004 - V ZR 104/03]; Stackmann NJW 13, 2929). Ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten wird der Partei dabei in vollem Umfang zugerechnet (§ 85 II; Köln Urt v 24.2.22 – 28 U 55/21; München Urt v 8.12.09 – 5 U 3029/06). Tatsachen, die der Partei erst nach dem Schluss der erstinstanzlichen Verhandlung bekannt oder in ihrer Bedeutung für die Entscheidung bewusst geworden sind bzw an die sie sich erst nachträglich erinnert (Kobl NJW 04, 865 [BGH 02.12.2003 - 1 StR 102/03]), dürfen nur dann neu vorgetragen werden, wenn dies nicht auf einer Nachlässigkeit beruht (BGH NJW 06, 152, 154 [BGH 18.10.2005 - VI ZR 270/04]). Insoweit hängt die Zulassung davon ab, ob die Partei die Tatsachen bei Aufwendung der gebotenen Sorgfalt hätte erfahren oder ihre Entscheidungsrelevanz hätte erkennen können. Dabei ist ›grobe‹ Nachlässigkeit nicht erforderlich, bereits einfache Fahrlässigkeit schadet (BGH NJW 04, 2825, 2827 [BGH 08.06.2004 - VI ZR 199/03]; Ddorf NJW-RR 18, 1039 [BGH 21.06.2018 - VII ZR 173/16]). Nachlässig handelt die Partei nicht bloß, wenn sie ihr bereits bekannte Tatsachen nicht vorträgt, sondern bereits dann, wenn sie ihr mögliche und zumutbare Tatsachen nicht ermittelt. So muss von einer beweisbelasteten Partei erwartet werden, dass sie für die Begründung der erstinstanzlichen Klage hinreichend recherchiert (BGHZ 198, 187) und im Umfeld der Beweistatsache recherchiert, wer als Zeuge in Betracht kommt (Saarbr Urt v 26.4.12 – 8 U 80/11). Allerdings dürfen die Anforderungen an die Ermittlung des Prozessstoffs nicht überspannt werden. Eine Verpflichtung, tatsächliche Umstände, die der Partei nicht bekannt sind, erst zu ermitteln, besteht nicht (BGH NJW-RR 21, 56 [BGH 12.11.2020 - IX ZR 214/19]; ZfIR 16, 587; BGH NJW-RR 14, 85 [BGH 30.10.2013 - VII ZR 339/12]; Ddorf NZKart 15, 323). So ist der Prozessbevollmächtigte einer Partei nicht verpflichtet, umfangreiche staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakten im Einzelnen darauf durchzusehen, ob ihnen Anhaltspunkte für bestimmte Pflichtverletzungen zu entnehmen sein könnten, die nach dem bisherigen Sachstand nicht im Raum stehen (BGH NJW-RR 09, 329). Aus prozesstaktischen Gründen bewusst zurückgehaltene Angriffs- und Verteidigungsmittel sind in 2. Instanz ausgeschlossen, auch dann, wenn der Vortrag für die Berufungsinstanz ausdrücklich vorbehalten wurde (BGH NJW-RR 11, 211; NJW 10, 376; VersR 07, 373; KG MDR 10, 345; KG VersR 10, 1471; KG MDR 09, 1244). Hat die Partei sich erstinstanzlich mit der urkundsbeweislichen Verwertung schriftlich vorliegender Zeugenbekundungen einverstanden erklärt, so ist sie im Berufungsverfahren mit dem Antrag, die Zeugen gerichtlich vernehmen zu lassen, ausgeschlossen (KG NZV 10, 200). Nachlässigkeit kann einer Partei indes nicht vorgeworfen werden, wenn sie die Behauptungen oder Beweismittel nicht bewusst zurückgehalten hat, weil sie keine Veranlassung hatte, die Richtigkeit ihres auf den Informationen Dritter beruhenden erstinstanzlichen Vortrags in Zweifel zu ziehen und Ermittlungen darüber anzustellen.
Rn 17
Nachlässige Nichtgeltendmachung kommt regelmäßig nur für Tatsachen in Betracht, die bereits vor Schluss der letzten mündlichen Verhandlung 1. Instanz vorlagen. Ist nicht nur der Vortrag des Angriffs- und Verteidigungsmittels neu (›nova reperta‹), sondern auch die zugrunde liegende Tatsache selbst (›nova producta‹), steht deren Berücksichtigung § 531 II Nr 3 nicht entgegen. Tatsachen, die erst nach Schluss der erstinstanzlichen Verhandlung entstanden sind, dürfen zweitinstanzlich grds uneingeschränkt neu vorgetragen werden (BGH BauR 16, 1362; Magazindienst 11, 583; GRUR-RR 11, 439; NJW-RR 10, 1478).
Rn 18
Zweifelhaft ist, inwieweit dies für die Ausübung von Rechten, insb Gestaltungsrechten gilt, die bereits vor Schluss der mündlichen Verhandlung entstanden waren (Zehelein JA 21, 405, 408). IRd § 767 II versagt die Rspr dem Schuldner, der nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen die Aufrechnung erklärt hat, die Vollstreckungsgegenklage, wenn schon vor dem genannten Zeitpunkt eine Aufrechnungslage bestanden hat (BGHZ 163, 339, 342 mwN). Entsprechendes gilt für eine Anfechtung (BGH NJW 04, 1252, 1253 mwN) und für eine Kündigungserklärung (BGH NJW-RR 06, 229). Etwas anderes gilt nur dann, wenn es gerade zum Zweck des Gestaltungsrechts gehört, dem Berechtigten die Entscheidung zu überlassen, zu welchem Zeitpunkt er von seinem Recht Gebrauch macht. Der Beklagte ist deshalb nicht gehalten, vorzeitig von einem ihm für einen bestimmten Zeitraum eingeräumten Optionsrecht Gebra...