Entscheidungsstichwort (Thema)
Wirksamkeit einer Kündigung insbesondere vor dem Hintergrund einer verspäteten Erhebung der Kündigungsschutzklage. Kenntnis im Sinne des § 5 Abs. 1 Satz 2 KSchG
Leitsatz (amtlich)
1. Die Kenntnis im Sinne des § 5 Abs. 1 Satz 2 KSchG liegt erst vor, wenn die Arbeitnehmerin aufgrund einer ärztlichen Untersuchung berechnen kann, ob sie bereits im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung schwanger war.
2. Ein vor diesem Zeitpunkt binnen der offenen Klageerhebungsfrist des § 4 Satz 1 KSchG durchgeführter Schwangerschaftstest mit positivem Ergebnis führt nicht dazu, dass die Arbeitnehmerin gehalten ist, noch binnen der dreiwöchigen Frist Kündigungsschutzklage zu erheben. Ihr ist vielmehr eine angemessene Überlegungszeit einzuräumen, die nicht mit weniger als zwei Wochen angenommen werden kann (anders LAG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 13.05.2008, 3 Ta 56/08: 3 Tage). Die nachträgliche Zulassung der Kündigunsschutzklage erfolgt dann jedenfalls nach § 5 Abs. 1 Satz 1 KSchG.
3. Vorstehendes ergibt sich aus dem Effektivitätsgrundsatz unter Beachtung der Richtlinie 92/85/EWG des Rates vom 19. Oktober 1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz.
Normenkette
KSchG § 4 S. 1, § 5 Abs. 1 S. 1 und 2; MuSchG § 17 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Dresden (Entscheidung vom 05.01.2023; Aktenzeichen 6 Ca 1051/22) |
Tenor
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Dresden vom 05.01.2023 - Az. 6 Ca 1051/22 - wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits zweiter Instanz.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten zweitinstanzlich noch um die Wirksamkeit einer Kündigung insbesondere vor dem Hintergrund einer verspäteten Erhebung der Kündigungsschutzklage.
Die Klägerin ist seit Dezember 2012 mit einem Bruttomonatsgehalt von zuletzt 2.146,00 € als Orthoptistin/Behandlungsassistentin bei der Beklagten beschäftigt. In der Praxis sind insgesamt nicht mehr als 10 Arbeitnehmer (Vollzeit) tätig, ein Betriebsrat besteht nicht. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 13.05.2022, der Klägerin zugegangen am 14.05.2022, ordentlich zum 30.06.2022.
Am Sonntag, den 29.05.2022 führte die Klägerin zu Hause einen Schwangerschaftstest durch, welcher ein positives Ergebnis zeigte. Daraufhin schickte die Klägerin sowohl eine E-Mail als auch ein Einschreiben/Rückschein an die Beklagte, um diese über die Schwangerschaft zu informieren. Das Schreiben (vorgelegt als Anlage K4, Bl. 10 EA erster Instanz) lautet auszugsweise wie folgt:
"ich wollte Sie in Kenntnis setzen, dass ich heute einen Schwangerschaftstest durchgeführt habe, welcher ein positives Ergebnis anzeigte (Schwanger).
Ich werde schnellstmöglich einen Termin bei meinem Frauenarzt ausmachen, um eine intakte Schwangerschaft festzustellen, und Ihnen das Attest über den voraussichtlichen Geburtstermin nachreichen."
Mit Eingang beim Arbeitsgericht am 13.06.2022 stellte die Klägerin Antrag auf nachträgliche Zulassung der mit dem Antrag zugleich eingereichten Kündigungsschutzklage. Zu diesem Zeitpunkt war ein (erster) Termin bei der Frauenärztin für den 17.06.2022 vereinbart. Die Klägerin hatte sich sofort nach dem 29.05.2022 um einen Arzttermin bemüht, ein früherer Zeitpunkt stand nicht zur Wahl.
Antrag und Klage wurden der Beklagten am 17.06.2022 zugestellt. Mit Eingang am 21.06.2022 reichte die Klägerin ein ärztliches Attest vom 20.06.2022 bei Gericht ein, welches eine bei ihr am 17.06.2022 bestehende Schwangerschaft in der ca. 7 + 1 Schwangerschaftswoche bestätigt (Anlage K7, Bl. 22 EA erster Instanz). Die Klägerin verband die Vorlage der Bescheinigung bei Gericht mit einem vorsorglich erneut gestellten Antrag auf nachträgliche Zulassung.
Aus dem der Klägerin erstellten Mutterpass ergab sich ein voraussichtlicher Geburtstermin am 02.02.2023, die Klägerin berechnete den Zeugungstermin mit dem 11.05.2022.
Die Klägerin hat erstinstanzlich die Ansicht vertreten,
ohne die ärztliche Feststellung keine sichere Kenntnis einer bestehenden Schwangerschaft gehabt zu haben. Da es für die Wirksamkeit der Kündigung auf das Bestehen der Schwangerschaft bereits zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs ankomme, sei die ärztliche Feststellung erforderlich. Der Schwangerschaftstest sei lediglich ein Indiz, aber nicht zuverlässig. Es sei bekannt, dass Ergebnisse häufig fehlerhaft seien. Jedenfalls wahre die Kündigung die einzuhaltende Frist nicht. Das Arbeitsverhältnis könne erst mit Ablauf des 31.08.2022 beendet werden.
Die Klägerin hat erstinstanzlich beantragt,
- ihre Kündigungsschutzklage nachträglich zuzulassen.
- festzustellen, dass die Kündigung der Beklagten vom 13.05.2022 das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht beendet hat.
- festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien auch nicht durch andere Beendigungstatbestände endet, sondern zu unveränderten Bedin...