Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. Eingliederungshilfe. 24-Stunden-Assistenz. persönliches Budget. außerordentliche Kündigung einer Zielvereinbarung. wichtiger Grund. unterlassene Mitteilung von leistungsausschließenden Klinikaufenthalten. Pflicht zur vorherigen Abmahnung. Maßgeblichkeit des aktuellen Budgetzeitraums. sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Aufhebung der Bewilligung der Eingliederungshilfe als persönliches Budget. Sonderregelung des § 29 Abs 4 S 7 SGB 9 2018 für die Rückabwicklung. sozialgerichtliches Verfahren. Eilrechtsschutz. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs

 

Leitsatz (amtlich)

Zur außerordentlichen Kündigung einer Zielvereinbarung eines Persönlichen Budgets.

 

Orientierungssatz

1. Ein Verstoß gegen die Zielvereinbarung zum persönlichen Budget kann nur dann ein Kündigungsgrund für den Träger sein, wenn der Verstoß erheblich oder der bzw die Berechtigte zuvor wegen eines anderen Verstoßes bereits einmal abgemahnt worden ist.

2. Allein sehr hohe monatliche Zahlbeträge der Eingliederungshilfe (hier: 24-Stunden-Assistenz) machen einen Verstoß (hier: fehlende Meldung von leistungsausschließenden Krankenhausaufenthalten) noch nicht in diesem Sinne "erheblich".

3. Eine Abmahnung ist insbesondere dann erforderlich, wenn sie geeignet ist, ein vertragsgerechtes Verhalten des Kooperationspartners in Zukunft zu erreichen.

4. Für die Kündigung einer laufenden Zielvereinbarung kommt es nur auf Pflichtverstöße im entsprechend aktuellen Budgetzeitraum an .

5. In den Fällen der Rückabwicklung einer gekündigten Zielvereinbarung zum persönlichen Budget werden die Regelungen der §§ 45, 48 SGB 10 von der Spezialvorschrift des § 29 Abs 4 S 7 SGB 9 2018 verdrängt (hier im Hinblick auf die Aufhebung der Bewilligung der Eingliederungshilfe in Form eines persönlichen Budgets).

6. Zur Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs im Eilverfahren.

 

Tenor

I. Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts A-Stadt vom 6. Dezember 2021 wird zurückgewiesen.

II. Die Antragsgegnerin hat auch die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.

 

Gründe

I.

Zwischen den Beteiligten ist die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs gegen den Rücknahmebescheid vom 29. Oktober 2021 streitig.

Die 1997 geborene Antragstellerin leidet an einer spastischen Zerebralparese (Tetraparese) und erheblichen Spastiken in den Armen und Beinen. Sie ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100. In ihrem Schwerbehindertenausweis sind die Merkzeichen H, G, aG und B eingetragen. Die Antragstellerin ist auf ständige Hilfe und Assistenz angewiesen. Sie ist in Y.... aufgewachsen und war dort bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres in einem Kinderwohnhaus untergebracht. Im Oktober 2015 zog sie nach A…. um in eine Wohngemeinschaft mit sechs weiteren körperlich und geistig behinderten Menschen. Seit dem 1. Februar 2019 lebt sie in einer eigenen Wohnung. Ihre 24-stündige pflegerische Versorgung und Assistenz erfolgt durch die X.... gemeinnützige UG (haftungsbeschränkt) als Leistungserbringerin. Für die Kosten der 24-stündigen Pflege und Assistenz kam in der Vergangenheit die Antragsgegnerin mit Leistungen der Eingliederungshilfe sowie Leistungen der Hilfe zur Pflege nach den Sozialgesetzbüchern Neuntes Buch (SGB IX) und Zwölftes Buch (SGB XII) in Form eines persönlichen Budgets auf. Ausweislich der Zielvereinbarungen für die Zeiträume vom 1. Oktober 2017 bis 30. September 2018 und vom 1. Oktober 2018 bis 30. September 2019 erhielt die Antragstellerin entsprechende Leistungen der Eingliederungshilfe in Form eines persönlichen Budgets, um die alltäglichen und regelmäßig wiederkehrenden Bedarfe an Leistungen der Hilfe zur Pflege und Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu decken und um ihr in eigener Verantwortung ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Das Budget wurde zur Verfügung gestellt, um damit den gesamten Pflege- und Assistenzbedarf der Antragstellerin sicherzustellen.

Anlässlich des zu diesem Zeitpunkt geplanten Umzugs in ihre eigene Wohnung zum 1. Februar 2019 beantragte die Antragstellerin beim Antragsgegner am 31. Oktober 2018 Pflege- und Assistenzleistungen für eine Unterstützung von 24 Stunden pro Tag an 7 Tagen in der Woche. Die hierzu und in der Folge abgeschlossenen Zielvereinbarungen für die Zeiträume vom 1. August 2019 bis 31. Juli 2020 und 1. August 2020 bis 31. Juli 2022 beinhalteten als Ziel des persönlichen Budgets jeweils die Bereitstellung finanzieller Mittel, um alltägliche und regelmäßig wiederkehrende Bedarfe an Leistungen der ambulanten Hilfe zur Pflege und zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu decken und um in eigener Verantwortung ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Das Budget setzte sich aus einem Betrag von 22.723,41 € abzüglich des Pflegegeldes nach Pflegegrad 4 i. H. v. 728 € zusammen, was eine monatliche Gesamtbudgetleistung von 21.995,41 € als Fe...

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