Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Rechtsanwaltsvergütung. fiktive Terminsgebühr nach Nr 3106 Nr 3 RVG-VV
Leitsatz (amtlich)
Eine fiktive Terminsgebühr nach Nr 3106 S 2 Nr 3 RVG-VV erhält der Anwalt nur in Verfahren mit vorgeschriebener mündlicher Verhandlung.
Orientierungssatz
Die Höhe der fiktiven Terminsgebühr ist nach ständiger Rechtsprechung des Senats so zu bestimmen, dass alle Kriterien des § 14 RVG auf der Basis einer fingierten mündlichen Verhandlung durchzuprüfen sind.
Tenor
Der Beschluss des Sozialgerichts Kiel vom 26. Juni 2009 wird geändert.
Die Beschwerdegegnerin ist mit insgesamt 226,10 EUR zu vergüten.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Nachdem die Beschwerdegegnerin schon im Widerspruchsverfahren für den Antragsteller tätig geworden war, machte sie für ihn das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes S 9 AL 41/08 ER beim Sozialgericht Kiel anhängig. Das Sozialgericht ordnete sie dem Antragsteller im Wege der Prozesskostenhilfe (PKH) als Prozessbevollmächtigte bei (Beschluss vom 26. August 2008). Das Verfahren endete durch angenommenes Anerkenntnis, ohne dass eine Verhandlung stattgefunden hatte.
Mit der Kostenrechnung vom 22. September 2008 machte die Beschwerdegegnerin u. a. eine Verfahrensgebühr nach Nr. 3102 VV-RVG von 250,00 EUR und eine fiktive Terminsgebühr nach Nr. 3106 Ziff. 3 VV-RVG von 200,00 EUR geltend. Die Urkundsbeamtin kürzte die Verfahrensgebühr auf 170,00 EUR und die fiktive Terminsgebühr auf 100,00 EUR.
Hiergegen haben die Beschwerdegegnerin und der Beschwerdeführer Erinnerung eingelegt. Letzterer hat beantragt, die fiktive Terminsgebühr völlig zu streichen und die Vergütung auf insgesamt 226,10 EUR festzusetzen.
Mit Beschluss vom 26. Juni 2009 hat das Sozialgericht die Vergütung auf insgesamt 428,40 EUR festsetzt. Die Kürzung der Verfahrensgebühr wegen der vorangegangenen Tätigkeit der Anwältin im Widerspruchsverfahren sei gerechtfertigt. Es komme insofern die Nr. 3103 VV-RVG in Höhe der Mittelgebühr von 170,00 EUR zur Anwendung. Außerdem erhalte sie die fiktive Terminsgebühr. Diese betrage ebenfalls 170,00 EUR und folge damit in der Höhe der Verfahrensgebühr.
Gegen diesen am 14. Juli 2009 zugestellten Beschluss richtet sich die Beschwerde vom 28. Juli 2009, die sich gegen die Festsetzung der fiktiven Terminsgebühr in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes wendet. Dieser Auffassung tritt die Beschwerdegegnerin mit Rechtsausführungen entgegen.
Auf die gewechselten Schriftsätze und auf den Beschluss vom 26. Juni 2009 sowie auf die vorgelegten Verfahrensakten S 9 AL 41/08 ER wird im Übrigen verwiesen.
II.
Die Beschwerde ist zulässig. Die falsche Rechtsmittelbelehrung hat die fristgerechte Einlegung nicht gehindert. Der Beschwerdewert von 200,00 EUR ist überschritten.
Die Beschwerde ist auch begründet. Einziger Streitpunkt des Kostenverfahrens ist noch die Frage, ob die fiktive Terminsgebühr nach Nr. 3106 Ziff. 3 VV-RVG in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes angesetzt werden darf. Diese Frage ist zu verneinen. Die fiktive Terminsgebühr nach Nr. 3106 Ziff. 3 VV-RVG kann der PKH-Anwalt nur in solchen Verfahren geltend machen, in denen eine mündliche Verhandlung vorgeschrieben ist.
Der Wortlaut der Nr. 3106 VV-RVG verwendet mehrfach das Wort “Verfahren„. Dieser Begriff lässt nicht erkennen, ob er sich nur auf Verfahren mit vorgeschriebener mündlicher Verhandlung bezieht. Die Amtliche Vorbemerkung 3.2 Abs. 2 Satz 2 zum Vergütungsverzeichnis schafft keine Klarheit. Danach bestimmen sich die Gebühren nach Abschnitt 1 (also Nr. 3100 - 3106 VV-RVG), wenn in der Sozialgerichtsbarkeit Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zu vergüten sind. Daraus folgt, dass das Wort “Verfahren„ in Nr. 3106 VV-RVG sich auch auf Beschlussverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes beziehen könnte, also Verfahren, in denen eine mündliche Verhandlung nicht zwingend vorgeschrieben ist (§§ 124 Abs. 3, 86b Abs. 4 SGG). Legt man das Wort Verfahren so aus, bleibt in Ziff. 3 allerdings der Satzteil “ohne mündliche Verhandlung endet„ unklar. Dieser Satzteil wäre überflüssig, wenn der Gesetzgeber unter “Verfahren„ sowohl solche mit vorgeschriebener Verhandlung wie auch solche mit freigestellter verstanden hätte. Die wörtliche Auslegung der Norm erbringt kein schlüssiges und überzeugendes Ergebnis.
Es ist deshalb mit Hilfe weiterer Auslegungsmöglichkeiten zu untersuchen, warum der Gesetzgeber den allgemeinen Grundsatz, dass der Anwalt nur für tatsächlich erbrachte Leistungen vergütet werden soll, in der Nr. 3106 VV-RVG durchbrochen hat. Die systematische Auslegung gibt Hinweise darauf, dass Ziff. 3 nicht für alle Verfahren gelten kann. Denn die Ziff. 3 ist durch “oder„ mit den Regelungen in Ziff. 1 und 2 verbunden. Die Ziff. 1 besagt klar und deutlich, dass nur bei vorgeschriebener Verhandlung eine fiktive Verfahrensgebühr anfällt. Die Ziff. 2 bezieht sich auf den Gerichtsbescheid, der nach Anhörung der Beteiligten in besonders einfachen Fällen ohne Verhandlung ergeht ...