Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfassungsmäßigkeit der Höhe von Sozialleistungen bei Inflation
Leitsatz (amtlich)
1. Bei einer gesetzlich klar bestimmten Regelbedarfshöhe im Grundsicherungsrecht ist es den Fachgerichten verwehrt, im Eilverfahren selbst unmittelbar aus der Verfassung öffentlich-rechtliche Ansprüche zu schöpfen. Eine sich allein auf Art 1 Abs 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip des Art 20 Abs 1 GG und dem daraus folgenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums stützende Verurteilung zur vorläufigen Bewilligung von höheren Leistungen nach dem SGB II würde gegen das in Art 100 GG verankerte Verwerfungsmonopol des BVerfG für gesetzliche Normen verstoßen (Anschluss an LSG Celle-Bremen vom 24.8.2022 - L 8 SO 56/22 B ER).
2. Es besteht auch keine Veranlassung, wegen der derzeit hohen Inflationsrate und des damit eintretenden Kaufkraftverlustes das vorliegende Eilverfahren auszusetzen und dem BVerfG vorzulegen, denn die gegenwärtige monatliche Regelbedarfshöhe (für alleinstehende Erwachsene 449 €) ist am Maßstab der Verfassung nicht evident unzureichend. Der Gesetzgeber ist zwar gehalten, bei den periodisch anstehenden Neuermittlungen des Regelbedarfs zwischenzeitlich erkennbare Bedenken aufzugreifen und unzureichende Berechnungsschritte zu korrigieren. Eine solche Reaktion des Gesetzgebers ist jedoch erfolgt, indem nach § 73 SGB II für den Monat Juli 2022 von Amts wegen eine Einmalzahlung auch zum Inflationsausgleich in Höhe von 200 € gewährt wurde. Außerdem ist ein Gesetzgebungsverfahren angestoßen worden, das eine Neuberechnung des Regelbedarfs als Bürgergeld ab dem 1. Januar 2023 mit einer Erhöhung (für alleinstehende Erwachsene) von 53 € (vorgeschlagener Leistungssatz dann 502 €) vorsieht. Durch einen künftig doppelten Dynamisierungsfaktor soll auch schneller auf kurzfristigere Preiserhöhungen reagiert werden können.
Normenkette
SGB II § 20 Abs. 1 S. 1, § 41 Abs. 2, § 42 Abs. 2 S. 4 Nr. 1, § 73; SGB XII § 27a Abs. 1, §§ 28, 28a Anl, §§ 34, 40; RBSFV 2022 §§ 1-2; RBEG § 8; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1, 3, Art. 100; SGG § 86b Abs. 2, § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 172 Abs. 3 Nr. 1; ZPO § 920 Abs. 2
Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Kiel vom 2. August 2022 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt u.a. zum Inflationsausgleich ab Juli 2022 einen deutlich höheren Regelbedarf als vorläufige Leistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).
Der 1970 geborene Antragsteller lebt allein zur Untermiete in einer Wohnung in K. Er ist nicht erwerbstätig, bezieht kein Einkommen und verfügt über kein relevantes Vermögen. Die Antragsgegnerin bewilligte ihm für den Monat Juli 2020 Regelleistungen in Höhe von 449 € nebst Leistungen für die Kosten der Unterkunft (nicht bestandskräftiger Änderungsbescheid vom 14. Juli 2022 für die Zeit vom 1. Oktober 2021 bis 31. Juli 2022). Für den Zeitraum vom 1. August 2022 bis zum 31. Juli 2023 bewilligte der Antragsgegner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unter Berücksichtigung wiederum eines Regelbedarfs in Höhe von 449 € (Bescheid vom 14. Juli 2022). Mit Änderungsbescheid vom 23. August 2022 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller weitere Leistungen wegen der Erhöhung des monatlichen Heizkostenabschlages rückwirkend ab August 2022. Sowohl gegen den Ursprungsbescheid vom 14. Juli 2022 als auch gegen den Änderungsbescheid 23. August 2022 erhob der Antragsteller Widerspruch, worüber noch nicht entschieden ist.
Am 3. Juli 2022 hat der Antragsteller bei dem Sozialgericht (SG) Kiel einen Eilantrag auf Verpflichtung zur Gewährung vorläufig höherer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes gestellt. Die beanspruchte höhere Regelleistung begründet er mit einer grundsätzlichen Unterdeckung seiner SGB-II - Leistungen insbesondere gemessen an der tatsächlichen Inflationsrate. Die Erhöhung zum 1. Januar 2022 sei evident unzureichend gewesen. Dies gelte für alle Warengruppenanteile, für die die Leistungen teilweise (etwa Gesundheitspflege) sogar gekürzt worden seien. Gemessen an der realen Preissteigerung, die vom statistischen Bundesamt mit 122,7 % im April 2022 in Bezug auf das Jahr 2015 ermittelt worden sei, liege etwa in der Abteilung „Nahrung, alkoholfreie Getränke“ eine statistische Unterdeckung in Höhe von 17,88 € monatlich vor. Entsprechende Lücken bestünden in den übrigen Abteilungen. Unter Bezugnahme auf den Antrag der Bundestagsfraktion Die Linke vom 26. April 2022 (BT-Drucks 20/1502) hat der anwaltlich vertretene Antragsteller beantragt, ihm vorläufig Leistungen zur Sicherung des Regelbedarfs in Höhe von 687 € monatlich, also 238 € monatlich zusätzlich, zu gewähren. Die Berechnungsmethode für die existenzsichernden Leistungen müsse grundsätzlich verändert werden.
Am 27. Juli 2022 erhielt der Antragsteller gemäß § 73 SGB II einen Einmalbetrag in Höhe vo...