Entscheidungsstichwort (Thema)
Fahrradfahrer, die sich im öffentlichen Straßenverkehr auf einer sportlich ambitionierten Übungs-Zeitfahrt befinden, müssen den erforderlichen Sicherheitsabstand zum vorausfahrenden Kraftfahrzeug einhalten.
Leitsatz (amtlich)
1. Die Abwägung der wechselseitigen Unfallverursachungsbeiträge kann im Rahmen von §§ 9 StVG, 254 BGB zum vollständigen Ausschluss des Ersatzanspruchs führen, wenn das Verschulden des Geschädigten derart überwiegt, dass die vom Schädiger ausgehende Ursache völlig zurücktritt.
2. Bei einem typischen Auffahrunfall spricht der Anschein gegen den Auffahrenden. Es wird vermutet, dass er entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat, zu schnell gewesen ist oder schlicht unaufmerksam war und hierdurch grob gegen seine Verkehrspflichten verstoßen hat.
3. Der Abstand zu einem vorausfahrenden Fahrzeug muss in der Regel so groß sein, dass auch dann hinter diesem gehalten werden kann, wenn es plötzlich gebremst wird. Dies gilt auch für Radfahrer, die sich im öffentlichen Straßenverkehr auf einer sportlich ambitionierten Übungs-Zeitfahrt befinden.
4. Plötzliche Ereignisse wie ein Unfall oder drohende Gefahr sind typischerweise Anlass für abruptes Bremsen des vorausfahrenden Fahrzeugs, wofür gerade die Abstandsregeln gelten sollen.
5. Korrigierendes Vorbringen einer Partei zur Sache in der mündlichen Verhandlung ist weder präkludiert noch von vornherein unglaubhaft. Der Vorgang unterliegt vielmehr der richterlichen Wertung.
Normenkette
BGB § 254; StVG § 7 Abs. 1, §§ 9, 17, 18 Abs. 1; StVO § 4 Abs. 1; VVG § 115 Abs. 1 Nr. 1
Tenor
I. Der Kläger wird gemäß § 522 Abs. 2 ZPO darauf hingewiesen, dass die Berufung gegen das angefochtene Urteil offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg bietet, die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts durch Urteil nicht erfordert und eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist. Der Senat beabsichtigt deshalb, die Berufung aus den nachfolgenden Gründen ohne mündliche Verhandlung durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen.
II. Es besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen 3 Wochen, sofern die Berufung nicht aus Kostengründen innerhalb der genannten Frist zurückgenommen werden sollte.
III. Der Senat beabsichtigt, den Streitwert für den zweiten Rechtszug auf 10.000,00 EUR festzusetzen.
Gründe
I. Die Parteien streiten um Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall.
Der Kläger nahm am 13.09.2020 mit seinem Rennrad an einer in der Art eines Zeitfahrens ausgestalteten Ausfahrt seines Radsportvereins teil, bei dem die Teilnehmer im Abstand von 30 bis 60 Sekunden von S. aus losfuhren. Der Kläger startete um kurz vor 11:00 Uhr. Die Strecke verlief über öffentliche Straßen, die nicht für den übrigen Verkehr gesperrt worden waren. Vor dem Kläger war der Zeuge B. gestartet. Gegen 11:03 Uhr erreichte der Kläger St., wo er auf der S.-straße annähernd zum Zeugen B. aufschloss.
Der Beklagte zu 1) befuhr zu diesem Zeitpunkt mit seinem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Fahrzeug Opel Astra die S.-straße in St. in gleicher Richtung wie die Radfahrer (d.h. Richtung L.) mit einer Geschwindigkeit von ca. 30 km/h. Im weiteren Verlauf der S.-straße wird die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h begrenzt. Streitig ist, ob der Beklagte zu 1) beabsichtigte, auf eine linksseitig gelegene Sportplatzanlage abzubiegen.
Der Zeuge B. setzte zum Überholen des Fahrzeugs des Beklagten zu 1) an. Der Kläger, der ebenfalls beabsichtigte, den PKW zu überholen, befand sich zu diesem Zeitpunkt noch einige Meter dahinter. Kurz vor Beendigung seines Überholvorgangs kollidierte der Zeuge B. aus unklaren Gründen mit seinem Rennrad mit der linken vorderen Ecke des Beklagtenfahrzeugs und stürzte. Der Beklagte zu 1) bremste daraufhin stark ab. Der Kläger bremste ebenfalls und wich nach rechts aus, konnte jedoch eine Kollision mit dem rechten Heck des PKW nicht mehr verhindern. Auch er stürzte und zog sich erhebliche Verletzungen zu.
Der Kläger behauptet, der Beklagte zu 1) sei über eine längere Strecke sehr langsam gefahren. Er habe nach links zu den Sportplätzen abbiegen wollen, dies aber nicht angezeigt. Zu der Kollision mit dem Zeugen B. sei es gekommen, als der Beklagte zu 1) sein Fahrzeug unvermittelt nach links gelenkt habe, während der Zeuge sich im Überholvorgang etwa auf Höhe der B-Säule des Fahrzeugs befunden habe.
Der Kläger ist der Auffassung, der Beklagte zu 1) habe den Unfall wegen eines Verstoßes gegen § 9 StVO allein verschuldet.
Der Kläger macht ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 5.000.00 EUR sowie Schadensersatz wegen seiner Schäden an Fahrrad und Kleidung und wegen seines Haushaltsführungsschadens - zusammen 5.005,00 EUR - geltend.
Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt,
1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld zzgl. Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem...