Entscheidungsstichwort (Thema)

Haftung der Mercedes-Benz Group AG für Dieselmotor OM 651(Euro 6) bei fehlender KBA-Pflichtrückruf für das Fahrzeug

 

Leitsatz (amtlich)

1. Allein der Besitz eines Mercedes-Benz Fahrzeugs mit einem darin verbauten Dieselmotor OM 651 lässt nicht die allgemeine Schlussfolgerung zu, die in anderen Verfahren veröffentlichten Untersuchungsergebnisse betreffend andere Fahrzeugmodelle ließen sich auch auf dieses Fahrzeug übertragen

2. Bei sog. "freiwilligen Servicemaßnahmen" wurde - im Unterschied zu verbindlichen KBA-Rückrufen - gerade keine unzulässige Abschalteinrichtung gem. VO (EG) 715/2007 in der Softwarestruktur des betroffenen Fahrzeugs festgestellt. Das BMVI konnte im April 2016 nicht nur die Daimler AG sondern auch andere Hersteller dazu veranlassen, über freiwillige Servicemaßnahmen insoweit Verbesserungen im Abgasverhalten von Bestandsfahrzeugen vorzunehmen. In solchen Fällen hat der jeweilige Hersteller - nach Abstimmung mit dem zuständigen KBA - nur freiwillig die möglichen technischen Grenzen, basierend auf den mittlerweile erlangten Erfahrungen mit der Motorsteuerung so angepasst, dass die Abgasreinigung auch bei realistischen Umgebungstemperaturen (z.B. niedrige Temperatur, niedriger Luftdruck) verbessert wird (vgl. KBA, Bericht v. 10.01.2020 "Wirksamkeit von Software-Updates zur Reduzierung von Stickoxiden bei Dieselmotoren"; Homepage KBA).

3. Die "Thermofenster-Problematik" ist mittlerweile von der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt (vgl. BGH Beschluss vom 29.09.2021,VII ZR 223/20; BGH, Beschluss vom 29.09.2021, VII ZR 126/21; BGH, Beschluss vom 13.10.2021, VII ZR 50/21). Es fehlt im Übrigen auch am subjektiven Schädigungsvorsatz i.S.v. § 826 BGB.

4. Bei der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung (KSR) handelt es sich gerade nicht - wie bei dem manipulierten VW Motor EA 189 - um eine Softwarelogik, die den Prüfstandsmodus erkennt und deshalb die Intensität der Abgasreinigung davon abhängig macht, ob sich das Fahrzeug gerade auf dem Prüfstand oder im Straßenbetrieb befindet. Vielmehr ist der geregelte Kühlmittelthermostat sowohl im realen Straßenbetrieb als auch auf dem Prüfstand aktiviert und dient gerade der Reduktion von Emissionen beim Kaltstart. Bei Euro 6-Fahrzeugen (die nicht von einem KBA Rückruf betroffen sind) ist die KSR regelmäßig im Warmlauf aktiv und nicht künstlich an die Spezifika des Prüfstands geknüpft. Alle Aktivierungsparameter der KSR (bis 1.950 m Höhe, Luftdruck ≫ 800 hPa, 20 °C Umgebungstemperatur bzw. 35 °C Ansauglufttemperatur) kommen auch im realen Straßenbetrieb vor. Der Warmlauf auf kurzen Strecken (bis 20 km) macht statistisch auch in der Praxis den Großteil aller realen Fahrten mit dieselbetriebenen Fahrzeugen in Deutschland aus.

5. Die Schlussanträge des Generalanwalts Rantos vom 02.06.2022 (EuGH C 100/21) rechtfertigen keine Aussetzung des Verfahrens nach § 148 ZPO. Selbst unter der Annahme, dass es sich - wie nicht - bei der VO (EG) 715/2007 um ein Schutzgesetz i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB handeln würde, fehlt es am Verschulden des Herstellers. Bis zur Entscheidung des EuGH vom 17.12.2020 (Az. C-693/18 = Thermofenster stellt unzulässige Abschalteinrichtung i.S.d. VO (EG) 715/2007 dar) durften die Hersteller nämlich noch davon ausgehen, dass eine solche Steuerung jedenfalls aus Gründen des Motor- oder Bauteilschutzes zulässig sei (= weite Auslegung von Art. 5 Abs. 2 S. 2 lit. a VO 715/2007/EG; vgl. VW-Bericht aus April 2016). Insoweit befanden sie sich hinsichtlich des Thermofensters in einem unvermeidlichen Verbotsirrtum.

 

Normenkette

BGB §§ 31, 823 Abs. 2, § 826; EGV 715/2007 Art. 5 Abs. 2 S. 2 Buchst. a; ZPO § 148

 

Tenor

1. Die Berufung der Klägerin gegen das am 03.02.2022 verkündete Urteil des Einzelrichters der 10. Zivilkammer des Landgerichts Lübeck, Aktenzeichen 10 O 205/21, wird zurückgewiesen.

2. Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

3. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Lübeck ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung der Beklagten wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

4. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 29.854,55 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Die Klägerin beansprucht von der Beklagten Schadenersatz wegen des Kaufs eines Diesel-Fahrzeugs.

Mit Kaufvertrag vom 12.09.2017 (Anlagenband "Klägerin") erwarb die Klägerin in einer Vertragswerkstatt der Beklagten einen gebrauchten Mercedes Benz, E 220 CDI BlueTEC (EZ 06.03.2017), Euro 6 mit Dieselmotor OM 651, AGR und SCR-Katalysator zu einem Kaufpreis in Höhe von 30.034,77 EUR. Die Laufleistung des Fahrzeugs im Zeitpunkt des Kaufs betrug 5.500 km. Im Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung hatte es eine Laufleistung von 55.135 km. Das Fahrzeug ist nicht von einem amtlichen KBA-Rückruf betroffen.

Im März 2020 erhielt die Klägerin ein Schreiben de...

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