Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Haftungsquote eines Linksabbiegers bei der Kollision mit einem überholenden und zu schnell fahrenden Motorrad.
Leitsatz (amtlich)
1. Das unberechtigte Übergehen eines Beweisantrags stellt einen Verstoß gegen die Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs dar. Darin liegt zugleich ein wesentlicher Verfahrensmangel.
2. Die Entscheidung bei einem wesentlichen Verfahrensmangel zwischen Zurückverweisung und eigenen Sachentscheidung steht im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts. Dabei ist insbesondere auch zu berücksichtigen, dass eine Zurückverweisung in aller Regel zu einer Verteuerung und Verzögerung des Rechtsstreites führt und dies den Interessen der Parteien entgegenstehen kann.
3. Wenn sich ein Unfall im unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem Linksabbiegevorgang ereignet, spricht der Anschein dafür, dass der Linksabbieger die ihm obliegenden Sorgfaltsanforderungen, insbesondere die doppelte Rückschaupflicht, nicht ausreichend beachtet hat. Es genügt nicht, den rückwärtigen Verkehr nur über den Spiegel zu kontrollieren.
4. Eine unklare Verkehrslage ist gegeben, wenn der Überholer nach den Umständen mit einem ungefährdeten Überholen nicht rechnen darf, was insbesondere dann der Fall ist, wenn er nicht verlässlich beurteilen kann, was der Fahrer des vorausfahrenden Fahrzeugs sogleich tun werde.
5. Der Umfang eines etwaigen des Mitverschuldens des Verletzten an der Entstehung seiner unfallbedingten Verletzungen ist bei der Bemessung des Schmerzensgeldes zu berücksichtigen.
Normenkette
BGB §§ 249, 252, 254 Abs. 2; GG Art. 103 Abs. 1; GKG § 21 Abs. 1 S. 1; StVG §§ 7, 17-18; StVO § 3 Abs. 1, § 5 Abs. 3, § 9 Abs. 1 S. 4; ZPO § 538 Abs. 2 Nr. 1, § 543 Abs. 2
Tenor
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das am 11.10.2023 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 10. Zivilkammer des Landgerichts Kiel (10 O 78/20) mit dem ihm zugrundeliegenden Verfahren aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Kiel zurückverwiesen.
2. Gerichtliche Gebühren und Auslagen, die durch das aufgehobene Urteil verursacht worden sind und die durch die Berufung entstanden sind, werden nicht erhoben. Im Übrigen bleibt die Kostenentscheidung der abschließenden Entscheidung des Landgerichts vorbehalten.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Die Parteien streiten um materiellen und immateriellen Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall am Vormittag des 17.06.2018 in M. bei B. (Kreis R-E. Einmündung von der B4 in Richtung D-moor).
Der Zeuge C. fuhr mit dem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Fahrzeug auf der Bundesstraße 4 in Fahrtrichtung N.. Er beabsichtigte nach links in die Straße H. einzubiegen. Der Kläger fuhr mit einem Motorrad der Marke Honda CBR 900 Fireblade SC 33 (EZ 13.06.1997) hinter dem Beklagtenfahrzeug und setzte zum Überholen an. Hierdurch kam es zum Unfall dessen Einzelheiten zwischen den Parteien streitig sind. Streitig ist insbesondere ob und wann der Zeuge C. den Fahrtrichtungsanzeiger betätigte.
Durch den Unfall wurde der Kläger (geb. 1974) verletzt und musste stationär sowie ambulant behandelt werden. Er erlitt eine Sprengung des Schultergelenks links (Typ Rockwood 5, also mit Riss sowohl des Bandapparats als auch der Muskulatur), Schürfwunden und im Behandlungsverlauf eine Wundheilungsstörung. Die Bewegungsfähigkeit der Schulter ist dauerhaft beeinträchtigt. Der Kläger kann den linken Arm nicht mehr über die Horizontalebene heben. Für die weiteren Einzelheiten zum Behandlungsverlauf wird auf die Darstellung im angefochtenen Urteil verwiesen.
Der Kläger hat mit der Klage neben umfassender Feststellung die Beklagte auf Zahlung von Verdienstausfallschaden und Schmerzensgeld in Anspruch genommen, hierbei wurde der begehrte Verdienstausfall bis Ende März 2020 mit 33.858,43 EUR und Übrigen als monatliche Zahlung in Höhe von 3.183,20 EUR bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze geltend gemacht. Der Kläger ist Linkshänder und hat vor dem Unfall als Maler bei einer dänischen Zeitarbeitsfirma gearbeitet. Seit Dezember 2018 bezieht er Leistungen vom Jobcenter N.. Ausweislich des Rückübertragungs- und Abtretungsvertrages vom 21.02.2022 vereinbarte der Kläger mit dem Jobcenter eine Rückübertragung der auf das Jobcenter übergegangenen Schadensersatzansprüche zum Zwecke der gerichtlichen Geltendmachung. Die Beklagte zahlte zur Erfüllung eines Schmerzensgeldanspruchs an den Kläger insgesamt 6.000,00 EUR (2.000,00 EUR am 15.08.2018, 1.000,00 EUR am 05.11.2018, 3.000,00 EUR am 10.07.2019). Auf den geltend gemachten Verdienstausfallschaden leistete die Beklagte Zahlungen in Höhe von 28.921,21 EUR.
Der Kläger hat beantragt,
1. Die Beklagte wird verurteilt, an ihn 33.858,43 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an ihn ab dem 01.04.2020 einen Betrag von 3.183,20 EUR monatlich, zahlbar zum jeweils 1. e...