Entscheidungsstichwort (Thema)
Verkehrsunfall im Zusammenhang mit unzulässigem Überholen und Rechtsabbiegen in ein Grundstück: Zur Haftungsverteilung bei Überholen trotz unklarer Verkehrslage, wenn der vorausfahrende Rechtsabbieger vor dem Abbiegen nach links ausholt.
Leitsatz (amtlich)
1. Eine unklare Verkehrslage i.S.d. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO und damit ein unzulässiges Überholen kommt in Betracht, wenn das vorausfahrende Fahrzeug bei einem ordnungsgemäß angekündigten Rechtsabbiegen in ein Grundstück zunächst erkennbar - unter Verstoß gegen § 9 Abs. 1 S. 2 StVO - nach links ausholt. In diesem Fall hat der Überholende mit einem weiteren Ausscheren des Vorausfahrenden nach links vor dem eigentlichen Abbiegen zu rechnen.
2. Im Falle einer seitlichen Kollision zwischen einem unter Verstoß gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO bei unklarer Verkehrslage Überholenden und einem nach rechts in ein Grundstück abbiegenden Vorausfahrenden, der sich entgegen § 9 Abs. 1 S. 2, Abs. 5 StVO zunächst nach links zur Fahrbahnmitte hin einordnet und unmittelbar vor dem Rechtsabbiegen nach links ausholt, kommt eine Haftungsverteilung von 60 % zu 40 % zulasten des Überholenden in Betracht.
Normenkette
StVG § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1 S. 1; StVO § 1 Abs. 2, § 5 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 4, 4a, § 9 Abs. 1 Sätze 2, 4, Abs. 5; VVG § 115 Abs. 1 Nr. 1
Verfahrensgang
LG Kiel (Urteil vom 09.06.2023; Aktenzeichen 2 O 61/20) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil der Einzelrichterin der 2. Zivilkammer des Landgerichts Kiel vom 09.06.2023, Az. 2 O 61/20, abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 2.510,19 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 12.06.2020 sowie weitere 334,75 EUR auf vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 18.10.2020 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger jeden weiteren Schaden aus dem Verkehrsunfall vom 15.05.2020 in Seedorf nach einer Haftungsquote von 40 % zu ersetzen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits im ersten Rechtszug haben der Kläger 69 % und die Beklagte - ggf. als Gesamtschuldner neben den Erben des Hans Sommer - 31 % zu tragen. Von den Kosten des Rechtsstreits im zweiten Rechtszug haben der Kläger 38 % und die Beklagte 62 % zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I. Die Parteien streiten um Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall vom 15.05.2020 in S. Der Kläger befuhr mit seinem PKW Audi X (amtliches Kennzeichen X) die X-Straße in Richtung S. Vor ihm fuhr der Versicherungsnehmer der Beklagten, der vormalige Beklagte zu 2), der am X verstorben ist, mit seinem bei der Beklagten haftpflichtversicherten VW (amtliches Kennzeichen X, nachfolgend "Beklagtenfahrzeug"). Der Versicherungsnehmer der Beklagten beabsichtigte, nach rechts in sein Grundstück - Hausnummer X - abzubiegen. Er reduzierte seine Geschwindigkeit, blinkte nach rechts und lenkte sein Fahrzeug zunächst etwas nach links zur Fahrbahnmitte hin. Der Kläger setzte etwa zur gleichen Zeit zum Linksüberholen an. Der Abstand und die Geschwindigkeitsdifferenz dabei sind streitig. Als sich die beiden Fahrzeuge etwa auf gleicher Höhe befanden, vollzog der Versicherungsnehmer der Beklagten mit seinem Fahrzeug eine weitere Lenkbewegung nach links - einen sog. Linksschwenk - und es kam zur seitlichen Kollision der Fahrzeuge. Die Fahrbahn verfügt an der Unfallstelle nicht über eine Mittelmarkierung.
Der Kläger hat behauptet, er sei mit seinem Fahrzeug beim Überholen geringfügig schneller gefahren als das Beklagtenfahrzeug und habe ausreichend Seitenabstand gehalten. Die Kollision sei auf der Gegenfahrbahn erfolgt und allein auf den deutlichen Linksschwenk des Beklagtenfahrzeugs zurückzuführen.
Der Kläger hat Beschädigungen seines Fahrzeuges rechtsseitig am Kotflügel, am Außenspiegel, an der Felge vorne, an den Türen vorne und hinten und am Seitenteil hinten behauptet. Er hat zuletzt Netto-Reparaturkosten in Höhe von 6.155,99 EUR behauptet. Die Sachverständigenkosten beliefen sich auf 948,43 EUR.
Der Kläger hat im ersten Rechtszug beantragt,
1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 7.716,79 EUR zu zahlen, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 04.06.2020;
2. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger jeden weiteren Schaden, der aus dem Verkehrsunfallereignis vom 15.05.2020 in Seedorf folgt, auf Basis einer Haftungsquote von 100 % zu ersetzen;
3. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn vorgerichtliche Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 864,66 EUR zu zahlen, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat behauptet, der Kläger sei mit minimalem Abstand am Beklagtenfahrzeug "vorbeigeschossen". Bei dem geringfügig...