Entscheidungsstichwort (Thema)
Zum kleinen Schadenersatz bei Mercedes-Benz Dieselfahrzeugen - bei einem KBA-Pflichtrückruf wegen der Abschaltfunktion Kühlmittel - Solltemperatur - Regelung (KSR) ist dem Hersteller die Berufung auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum verwehrt.
Leitsatz (amtlich)
1. Nach den Urteilen des BGH vom 26.06.2023 ist das unionsrechtlich geschützte Interesse, durch den Abschluss eines Kaufvertrags über ein Kraftfahrzeug nicht wegen eines Verstoßes des Fahrzeugherstellers gegen das europäische Abgasrecht eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, von § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV geschützt. Die unionsrechtlichen Verordnungen sind von den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 GG gedeckt.
2. Maßstab für die Frage der Zulässigkeit einer Funktionsveränderung des Emissionskontrollsystems in Abhängigkeit von bestimmten Parametern ist nach Art. 3 Nr. 10 VO (EG) 715/2007 ist nicht die Einhaltung des Grenzwerts auf dem Prüfstand, sondern die Wirksamkeit des unverändert funktionierenden Emissionskontrollsystems unter den Bedingungen des normalen Fahrbetriebs. Auf das vom KBA angenommene Unterscheidungskriterium der Grenzwertkausalität kommt es nicht an.
3. Für Zulässigkeit eines Thermofensters kommt es nicht auf die Einhaltung gesetzlicher Prüfstandswerte an, sondern ob die Abschalteinrichtung auch unter normalen Betriebsbedingungen den überwiegenden Teil des Jahres funktioniert. Normale Betriebsbedingungen herrschen im Gebiet der Europäischen Union jedenfalls in einem Temperaturbereich von 0°C bis +30°C.
4. Im Hinblick auf den Verbau eines Thermofensters unterlagen deutsche Fahrzeughersteller - jedenfalls bis zum Erlass der EuGH Entscheidung vom 17.12.2020 (Az. C-693/18) - einem unvermeidbaren Verbotsirrtum und handelten deshalb nicht fahrlässig.
5. Bei der Kühlmittel- Solltemperatur- Regelung (KSR) handelt es sich um eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 3 Nr. 10 VO (EG) Nr. 715/2007. Solche Einrichtungen, die nur kurzfristig und nicht während der gesamten Fahrt unter normalen Betriebsbedingungen arbeiten, wären nach Art. 5 Abs. 2 lit. b VO (EG) 715/2007 nur zum Anlassen des Motors zulässig.
6. Das für die Haftung des Herstellers nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV erforderliche Verschulden (mindestens Fahrlässigkeit) wird vermutet.
7. Jedenfalls bei einem vorliegenden KBA-Pflichtrückruf wegen der Abschaltfunktion "Geregeltes Kühlmittelthermostat" (KSR) ist dem Hersteller die Berufung auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum in Form der hypothetischen Genehmigung durch die zuständige Zulassungsbehörde verwehrt.
8. Nutzungsvorteile und der Restwert des Fahrzeugs sind insoweit schadensmindernd anzurechnen, wenn sie den Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags (gezahlter Kaufpreis abzüglich Differenzschaden) übersteigen. Der Restwert des Fahrzeugs kann vom Gericht anhand bekannter Bewertungsportale (Schwacke/DAT) und ggf. auch durch entsprechende Recherchen auf Gebrauchtwagenbörsen (z.B. mobile.de, Autoscout.24.de geschätzt werden. Durch die Vorteilausgleichung (Nutzungsvorteil + Restwert) kann der angenommene Differenzschaden auch vollständig ausgeglichen sein.
Normenkette
BGB §§ 31, 823 Abs. 2, § 826; EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1; EGV 715/2007 Art. 3 Nr. 10, Art. 5; GG Art. 80 Abs. 1; ZPO § 287
Verfahrensgang
LG Kiel (Urteil vom 05.05.2022; Aktenzeichen 11 O 174/20) |
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das am 05.05.2022 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 11. Zivilkammer des Landgerichts Kiel, Az. 11 O 174/20, wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I. Der Kläger nimmt die Beklagte wegen Schadenersatz aus dem sog. "Diesel-Abgasskandal" in Anspruch.
Der Kläger erwarb am 20.07.2017 von privat zum Preis von 18.500 EUR einen gebrauchten PKW Mercedes-Benz E 200 CDI, EU 5 mit AGR (EZ 14.7.2011; Typengenehmigung vom 18.2.2011), der zum Kaufzeitpunkt einen Kilometerstand von 78.701 km aufwies. In dem Fahrzeug ist ein Motor vom Typ OM 651 verbaut.
Das Fahrzeug des Klägers ist, gemeinsam mit den Fahrzeugtypen GLK 200 CDI und GLK 220 CDI 4MATIK, von einem nicht rechtskräftigen amtlichen Rückruf des Kraftfahrtbundesamts (KBA) vom 21. Juni 2019 in der Fassung des KBA-Ergänzungsbescheides vom 5.6.2020 (Anl. BB4 in teilgeschwärzter Form) betroffen. Bemängelt wurde, dass der Motor als unzulässige Abschalteinrichtung ein "Geregeltes Kühlmittelthermostat" aufweise, dessen Regelung konkret während des Motorwarmlaufs gerügt wurde. Unstreitig ist das Gros der EU 5 Modelle der PKW-Sparte der Beklagten, in denen das geregelte Kühlmittelthermostat zum Einsatz gelangt (≫ 80 %) nicht von einem KBA-Rückruf betroffen. Die Funktion des geregelten Kühlmittelthermostats ist darüber hinaus in keinem Fahrzeug der Beklagten mit der Abgasnorm EU 6 sowie in keinem Fahrzeug mit dem Motortyp EA 642 beanstandet worden. Das aufgrund der Bean...