Entscheidungsstichwort (Thema)

Pflicht des Herstellers von Dieselmotoren zur Aufklärung des Käufers über ein unzulässiges Thermofenster bei der Motorsteuerung seit Bekanntwerden des EuGH-Urteils am 17. Dezember 2020 - C-693/18

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein Fahrzeugmangel liegt vor, wenn das Abgasreinigungssystem des Motors mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 versehen ist, und deshalb die Gefahr einer Betriebsuntersagung oder Beschränkung besteht.

2. Ein vorprogrammiertes "Thermofenster" bei der Abgasreinigung stellt grundsätzlich eine unzulässige Abschalteinrichtung dar. Solches kann nur ausnahmsweise gerechtfertigt sein, wenn die Steuerung dem Schutz "vor plötzlichen und außergewöhnlichen Schäden während des laufenden Fahrzeugbetriebs" dient.

3. Grundsätzlich besteht für den Hersteller als Verkäufer die Pflicht, den Käufer über eine unzulässige Abschalteinrichtung aufzuklären. Bis zum Bekanntwerden des EuGH-Urteils am 17.12.2020 (C-693/18) fehlte es hinsichtlich der Motorsteuerung durch ein Thermofenster jedoch an einer arglistigen Pflichtverletzung, weil sich der Hersteller bis dahin in einem entsprechenden Rechtsirrtum befand.

4. Soweit andere unzulässige Abschalteinrichtungen bei Fahrzeugen mit dem Dieselmotor OM 651 behauptet werden (hier Kühlmittel-Sollwerttemperatur-Regelung), ist der Kläger darlegungs- und beweispflichtig dafür, dass eine solche auch tatsächlich in seinem Modell verbaut ist. Der Dieselmotor OM 651 wurde in unterschiedlichen Generationen in mindestens 10 verschiedenen Leistungsstufen mit jeweils unterschiedlichster Motorkonfiguration angeboten. Allein der Besitz eines Fahrzeugs mit dem Motor OM 651 lässt deshalb nicht die allgemeine Schlussfolgerung zu, dass bereits bekannte Untersuchungsergebnisse von anderen Fahrzeugmodellen sich auch auf dieses Fahrzeug übertragen lassen.

5. Durch die Grundsätze der sekundären Beweislast darf der Beibringungsgrundsatz nicht ausgehöhlt werden. Dem Automobilhersteller ist es grundsätzlich nicht zuzumuten, auf die bloße pauschale Behauptung einer unzulässigen Abschalteinrichtung hin im Einzelnen darlegen zu müssen, welche konkreten Abschaltungen ein bestimmter Motor enthält und warum diese gegebenenfalls für notwendig gehalten werden, um den Motor vor Beschädigungen oder Unfällen zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten.

6. Allein der Umstand, dass eine unzulässige Abschalteinrichtung in Form eines Thermofensters in einem Dieselfahrzeug verbaut ist, reicht auch unter Berücksichtigung einer damit verbundenen Gewinnerzielungsabsicht des Herstellers nicht aus, um den Vorwurf der Sittenwidrigkeit i.S.v. § 826 BGB zu rechtfertigen. Hierfür bedarf es vielmehr weiterer Umstände, wie z.B. unzutreffende Angaben des Herstellers über die Arbeitsweise des Abgasrückführungssystems im Typgenehmigungsverfahren.

Der Senat hat - vor Bekanntwerden des EuGH Urteils vom 17.12.2020 (C-693/18) - bereits in zwei anderen Verfahren mit Beschlüssen vom 30.9.2020 (7 U 27/20; Modell M 1 mit SCR Katalysator, EZ 1/16) und vom 27.10.2020 (7 U 63/20; Modell GLK 220 bluetec 4matic, EZ 7/15, inzwischen wieder verkauft) die entsprechenden Berufungen nach § 522 II ZPO zurückgewiesen. In diesem Verfahren hat der Senat die Revision zum BGH zugelassen.

 

Normenkette

BGB § 218 Abs. 1 S. 1, §§ 433, 437 Nrn. 2-3, § 438 Abs. 1 Nr. 3

 

Nachgehend

BGH (Beschluss vom 18.05.2022; Aktenzeichen VII ZR 239/21)

 

Tenor

1. Die Berufung des Klägers gegen das am 11.03.2020 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 10. Zivilkammer des Landgerichts Kiel wird zurückgewiesen.

2. Der Kläger trägt die Kosten der Berufung

3. Dieses und das angefochtene landgerichtliche Urteil sind vorläufig vollstreckbar. Dem Kläger bleibt nachgelassen, die Zwangsvollstreckung der Beklagten wegen der Kosten durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund der Urteile vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

4. Die Revision gegen dieses Urteil wird zugelassen.

 

Gründe

I. Der Kläger nimmt die Beklagte aus Vertrag und Delikt auf Rückabwicklung eines Gebrauchtwagenkaufs in Anspruch.

Der Kläger kaufte bei der Beklagten (Niederlassung K.) am 18.01.2016 einen gebrauchten Mercedes-Benz C 220 T Bluetec Kombi. Der Kaufpreis betrug 32.000,00 EUR. Das Fahrzeug war am 20.10.2014 erstzugelassen (Produktionsdatum 6.10.2014) und wies zum Kaufzeitpunkt eine Laufleistung von 21.307 km auf. Übergeben wurde es dem Kläger mit einer 24-monatigen Gebrauchtwagengarantie und einem Umtauschrecht binnen 10 Tagen am 21.01.2016.

Das Fahrzeug der Baureihe W 205 ist ausgerüstet mit einem Dieselmotor der EU-Emissionsstufe 6, Motorkennung "OM 651 DE 22 LA" (OM = Oelmotor-Diesel; Baureihe = 3-stellig; DE = Direkteinspritzung; Hubraum = gerundet Deziliter; L = Ladeluftkühlung; A = Abgasturbolader).

Die Abgasrückführung (AGR) hängt von der Umgebungstemperatur ab un...

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