Rz. 27
Steht dem Beschuldigten ein Anspruch gegen die Staatskasse auf Erstattung seiner notwendigen Auslagen zu, so kann der Pflichtverteidiger den Beschuldigten in Höhe dieses Erstattungsanspruchs in Anspruch nehmen. Auf welcher Grundlage der Erstattungsanspruch beruht, ist unerheblich. In Betracht kommen hier insbesondere:
Rz. 28
Erstattungsansprüche gegen Dritte genügen für sich allein noch nicht, um einen Anspruch nach Abs. 1 S. 1 zuzubilligen. Im Gegensatz zu Erstattungsansprüchen gegen die Staatskasse steht bei Erstattungsansprüchen gegen Dritte nicht fest, dass der Beschuldigte diese Erstattungsansprüche auch tatsächlich wird realisieren können. Es besteht das Risiko der Insolvenz. Kostenerstattungsansprüche gegen Dritte sind allerdings im Rahmen der Feststellung der Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen (siehe Rdn 60), insbesondere, wenn diese Ansprüche realisiert werden konnten.
Rz. 29
Aus der Einschränkung, dass der Anspruch nur "insoweit" geltend gemacht werden kann, ergibt sich, dass stets eine Gegenüberstellung der Wahlgebühren und des Erstattungsanspruchs vorzunehmen ist. Nur denjenigen Teil oder diejenige Quote der Wahlverteidigergebühren, für die ein Erstattungsanspruch besteht, kann der Pflichtverteidiger geltend machen.
Beispiel: Der Beschuldigte war wegen zweier Taten angeklagt. Wegen einer Tat ist er freigesprochen, wegen der anderen verurteilt worden. Die Kosten und die notwendigen Auslagen des Beschuldigten tragen dieser und die Staatskasse nach § 464d StPO jeweils zur Hälfte. Auszugehen ist jeweils von einer Mittelgebühr. Der Beschuldigte selbst ist nicht leistungsfähig.
Nach Abs. 2 S. 1, 1. Alt. – also ohne Feststellung nach Abs. 2 S. 1, 2. Alt. – kann der Anwalt die Wahlanwaltsgebühren nur zur Hälfte gegen den Beschuldigten geltend machen.
Rz. 30
Das Gesetz regelt nicht, inwieweit in diesen Fällen der Anspruch nach Abs. 1 S. 2 entfällt. Zutreffend ist es, die aus der Staatskasse gezahlten Pflichtverteidigergebühren ebenfalls nur "insoweit" anzurechnen, also lediglich in Höhe des hälftigen Betrages.
Fortsetzung des Beispiels: Der Anwalt kann daher im vorangegangenen Beispiel noch folgende Wahlanwaltsgebühren abrechnen:
I. Anspruch nach Abs. 1 S. 1
1. |
Grundgebühr, VV 4100 |
|
220,00 EUR |
2. |
Verfahrensgebühr, VV 4106 |
|
181,50 EUR |
3. |
Terminsgebühr, VV 4108 |
|
302,50 EUR |
|
Zwischensumme 1 |
704,00 EUR |
|
4. |
abzügl. ½, da Erstattung nur in dieser Höhe |
|
– 352,00 EUR |
|
Zwischensumme 2 |
352,00 EUR |
|
II. Anspruch als Pflichtverteidiger
1. |
Grundgebühr, VV 4100 |
|
176,00 EUR |
2. |
Verfahrensgebühr, VV 4106 |
|
145,00 EUR |
3. |
Terminsgebühr, VV 4108 |
|
242,00 EUR |
|
Zwischensumme 3 |
563,00 EUR |
|
4. |
abzügl. ½ |
|
– 281,50 EUR |
|
Zwischensumme 4 |
281,50 EUR |
|
III. Ergebnis
Dem Anwalt stehen also neben der Pflichtverteidigervergütung i.H.v. netto |
563,00 EUR |
nach Abs. 1 S. 1 gegen den Beschuldigten weitere
Zwischensumme 2 |
352,00 EUR |
|
abzügl. Zwischensumme 4 |
– 281,50 EUR |
|
zu, also |
|
70,50 EUR |
Gesamt |
|
633,50 EUR |
Den restlichen Betrag in Höhe von (704 EUR – 633,50 EUR =) 70,50 EUR kann der Anwalt nur bei Leistungsfähigkeit des Beschuldigten nach Abs. 2 S. 1, 2. Alt. verlangen.
Nach anderer Ansicht ist dagegen die Pflichtverteidigervergütung auch bei einem Teilfreispruch in vollem Umfang zu verrechnen.
Gem. Abs. 1 S. 2 zu verrechnen wäre danach wie folgt:
hälftiger Anspruch nach Abs. 1 S. 1 |
352,00 EUR |
gem. Abs. 1 S. 2 zu verrechnen:
1. |
Grundgebühr, VV 4100 |
– 176,00 EUR |
2. |
Verfahrensgebühr, VV 4106 |
– 145,00 EUR |
3. |
Terminsgebühr, VV 4108 |
– 242,00 EUR |
Gesamt |
0,00 EUR |
Es bliebe danach also kein Betrag mehr übrig, den der Pflichtverteidiger gegen den Beschuldigten gem. Abs. 2 S. 1, 1. Alt. noch geltend machen könnte. Lediglich nach Abs. 2 S. 1, 2. Alt. könnte er nach einem entsprechenden Beschluss die Differenzgebühren i.H.v. (704 EUR – 563 EUR =) 141 EUR geltend machen.
Rz. 31
Ob der Beschuldigte den Erstattungsanspruch gegen die Staatskasse realisieren kann, ist für den Anspruch des Anwalts nach Abs. 2 S. 1 unerheblich. Der Anwalt behält den Anspruch gegen den Beschuldigten also auch dann, wenn die Staatskasse wegen eigener Ansprüche (Kosten oder Geldstrafe) aufrechnet. Die gegenteilige Ansicht von Hansens ist unzutreffend. Er berücksichtigt nicht, dass der Anspruch nach Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 S. 1, 1. Alt. ja gerade Voraussetzung dafür ist, dass überhaupt ein Erstattungsanspruch festgesetzt werden kann. Wenn der Anwalt vom Beschuldigten nichts verlangen kann, kann der Beschuldigte auch nichts von der Staatskasse erstattet verlangen. Die Aufrechnung der Staatskasse betrifft nur das Erstattungsverhältnis zwischen ihr und dem Beschuldigten. Sie hat keine Auswirkung auf das Vergütungsverhältnis zwischen dem Pflichtverteidiger und dem ...