Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch einer an Transsexualität leidenden Person auf Versorgung mit einer Mastektomie bei Frau-zu-Mann-Transsexualität
Orientierungssatz
1. Besteht bei einer Person das Krankheitsbild von Transsexualität in Form einer nicht-binären Geschlechtsidentität mit der Folge einer psychischen Erkrankung, so hat die versicherte Person nach § 27 Abs. 1 SGB 5 Anspruch auf Versorgung mit einer Mastektomie.
2. Besteht bei der Frau-zu-Mann-Transsexualität wegen der weiblichen Brust ein erheblicher Leidensdruck, so ist die Notwendigkeit zur Versorgung mit einer Mastektomie gegeben, weil diesem nur durch Vornahme einer Mastektomie begegnet werden kann.
3. Die Anspruchseinschränkung nach der Rechtsprechung des BSG, wonach der Kostenerstattungsanspruch auf die Herstellung eines Zustands beschränkt ist, der aus der Sicht eines verständigen Betrachters dem Erscheinungsbild des anderen Geschlechts deutlich angenähert ist, wird wiederum durch den vom BVerfG entwickelten Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu Gunsten nicht-binärer Personen verdrängt und führt somit nicht zu einem Anspruchsausschluss.
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 3. September 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Februar 2021 verurteilt, der klagenden Person die Kosten der Mastektomie in Höhe von 8.352,21 Euro zu erstatten.
Die Beklagte hat der klagenden Person die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist die Erstattung von Kosten einer Mastektomie.
Die am ... geborene, bei der Beklagten versicherte klagende Person beantragte am 11. August 2020 die Übernahme der Kosten für eine Mastektomie. Sie sei transgeschlechtlich („Frau zu weder-noch“). Sie identifiziere sich seit dem Jahr 2015 als weder männlich noch weiblich und damit als nicht-binär. ... Seit März 2018 werde sie psychotherapeutisch behandelt. Ende 2019 habe sie begonnen, Testosteron einzunehmen. Zudem habe sie beim Amtsgericht Frankfurt in den Jahren 2018 und 2019 eine Vornamensänderung nach dem Transsexuellengesetz - TSG - durchgeführt.
Dem Antrag lag ein psychiatrisch-psychotherapeutisches Gutachten des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. ... für das Amtsgericht Frankfurt vom 20. Dezember 2018 bei, wonach die klagende Person mindestens seit der Pubertät in der Gewissheit lebe, nicht dem weiblichen Geschlecht anzugehören. Sie lebe ihre nonbinäre Geschlechtsidentität sei mehr als drei Jahren auch in allen psychosozialen Belangen nach außen und stehe unter dem Zwang, ihren Vorstellungen entsprechend zu leben. Es sei mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sich das nonbinäre Geschlechtszugehörigkeitsempfinden nicht mehr ändern werde.
Darüber hinaus fügte die klagende Person dem Antrag vom 11. August 2020 eine Stellungnahme des Facharztes Dr. ... vom 25. Juni 2020 mit folgendem Inhalt bei: Die klagende Person befinde sich seit 2018 in seiner psychotherapeutischen Behandlung. Grund für die Behandlung seien insbesondere Schwierigkeiten im Zusammenhang mit einer transidenten Entwicklung. Es liege eine eindeutige Entwicklung von biologisch einer Frau zu einer non-binären Geschlechtsidentität vor, die sich bis weit in die Kindheit zurückverfolgen lasse und die in allen Lebensbelangen gelebt werde. Seit Ende 2019 erfolge eine Hormonbehandlung. Die dadurch ausgelösten Effekte, insbesondere die tiefere Stimme, hätten sich positiv auf das Selbstbild ausgewirkt und zu einer affektiven Stabilisierung beigetragen. Es bestehe jedoch ein erheblicher Leidensdruck wegen der weiblichen Brust. Neben der Änderung des Vornamens sei eine Änderung des Personenstandes in „keine Angabe“ vorgenommen worden. Aus psychiatrischer Sicht sei davon auszugehen, dass dem erheblichen Leidensdruck nur durch die Vornahme einer Mastektomie nachhaltig begegnet werden könne. Die Indikation zur Mastektomie sei daher eindeutig gegeben und er empfehle, eine entsprechende Kostenzusage zu erteilen.
In einer dem Antrag ebenfalls beigefügten Bescheinigung vom 22. Juni 2020 bestätigte der Frauenarzt Dr. ..., dass seit Dezember 2019 eine gegengeschlechtliche Hormonbehandlung mit Testogel transdermal erfolge. Bei einer gynäkologischen Untersuchung ... festgestellt worden und kein Anhalt für Intersexualität.
In einem weiteren beigefügten ärztlichen Attest der Frauenklinik des Krankenhauses ... vom 28. Januar 2020 wurde als Diagnose Transsexualität (nicht-binäre Geschlechtsidentität) angegeben. Es habe ein intensives Aufklärungsgespräch über mögliche operative Maßnahmen im Rahmen der Transformation stattgefunden. Falls vom Patienten gewünscht, werde eine komplette Mastektomie mit freier Brustwarzentransplantation empfohlen.
Der von der Beklagten hinzugezogene Medizinische Dienst der Krankenversicherung - ... MDK - teilte in einem sozialmedizinischen Gutachten vom 29. August 2020 mit, bei der klagenden Person liege die Diagnose Störung der Geschlechteridentität (F64.9) vor. Voraussetzung für die Übernahme der Kosten einer Maste...