Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Kryokonservierung. Sachleistungsanspruch vor Umsetzung der Vergütungsmodalitäten
Leitsatz (amtlich)
Nach Erlass der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Kryokonservierung hatten Versicherte unmittelbar, auch schon vor Umsetzung der Vergütungsmodalitäten im Einheitlichen Bewertungsmaßstab, einen Sachleistungsanspruch gegen die gesetzlichen Krankenkassen.
Orientierungssatz
Aktenzeichen beim LSG Darmstadt: L 1 KR 142/24
Tenor
1. Der Bescheid der Beklagten vom 11. Mai 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. November 2021 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten der Klägerin für die Entnahme und Kryokonservierung von Eizellen in Höhe von 2.833,07 € zu erstatten.
3. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Tragung der Kosten für die Entnahme von Eizellen der Klägerin und deren Kryokonservierung.
Bei der Klägerin wurde mit Operation vom 23. Februar 2021 der linke Eierstock aufgrund eines Ovarialtumors entfernt.
Am 8. April 2021 um 15:22 Uhr kontaktierte die Klägerin die Beklagte telefonisch und teilte mit, dass sie Eizellen einfrieren lassen wolle, weil sie einen bösartigen Tumor habe und den Eileiter entfernt bekomme. Mit der Hormontherapie werde bereits am Dienstag begonnen. Ebenfalls am 8. April 2021 unterzeichnete die Klägerin eine Zustimmung zur Eierstockstimulation und Eizellentnahme zur Kryokonservierung Im Universitätsklinikum Frankfurt am Main. Am gleichen Tag unterzeichnete sie eine Vereinbarung über individuelle Gesundheitsleistungen und verpflichtete sich zur Zahlung der vereinbarten Behandlungskosten.
Mit Schreiben vom 9. April 2021, bei der Beklagten eingegangen am 14. April 2021 stellte die Klägerin einen Antrag auf Kostenerstattung/Kostenübernahme für Kryokonservierung bei der Beklagten. Da bereits auch am noch vorhandenen, rechten Eierstock Auffälligkeiten festgestellt worden seien, sei nach ärztlicher Beurteilung davon auszugehen, dass sie nach Abschluss der Therapiemaßnahmen keine Kinder mehr bekommen könne. Sie habe einen dringenden Kinderwunsch. Da die Kryokonservierung in der Leitlinie der deutschen medizinisch wissenschaftlichen Fachgesellschaft als Methode anerkannt und empfohlen werde und überdies bereits auch als Leistungsanspruch im Sozialgesetzbuch verankert sei, beantrage sie hiermit die Kostenübernahme/Kostenerstattung der Kryokonservierung ihrer Eizellen im Rahmen des anliegenden Behandlungsplans. Der nächste Operationstermin sei am 4. Mai 2021. Die Behandlung zur Kryokonservierung müsse nach ärztlicher Einschätzung daher bereits in der kommenden Woche ab dem 12. April 2021 eingeleitet werden. Der Zeitpunkt der Behandlungsmaßnahmen sei unaufschiebbar, da der anstehende Operationstermin unter keinen Umständen verschoben werden dürfe, da sonst mit einer massiven Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes zu rechnen sei. Dem Antrag fügte die Klägerin verschiedene medizinische Unterlagen bei. Zu Einzelheiten wird auf die Akte der Beklagten verwiesen.
Mit Bescheid vom 11. Mai 2021 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Kostenübernahme ab. Der neugefasste § 27a Abs. 4 Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) - Gesetzliche Krankenversicherung - vom 20. Dezember 1988 (SGB V) ermögliche die Fruchtbarkeitserhaltung für Mädchen und Frauen bis zum vollendeten 40. Lebensjahr und für Jungen und Männer bis zum vollendeten 50. Lebensjahr. Bislang seien der Beklagten die Vergütungssätze noch nicht bekannt. Eine Abrechnung über die elektronische Gesundheitskarte könne erst erfolgen, wenn sich die beteiligten Gremien auf eine bundeseinheitlich gültige Vergütungshöhe geeinigt haben.
Mit Schreiben vom 17. Mai 2021 widersprach die Klägerin gegen den Bescheid der Beklagten vom 11. Mai 2021. Die Begründung der Beklagten könne sie nicht nachvollziehen, da der Beklagten die Vergütungssätze auch nicht bei Einreichung des Antrags bekannt gewesen sein könnten und sie den Antrag noch vor Beginn der Therapiemaßnahmen hätte ablehnen können. In der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts stelle die Kryokonservierung sogar eine Krankenbehandlung dar. Davon unabhängig bestehe ihrer Auffassung nach mit Aufnahme des § 27a Abs. 4 SGB V ausdrücklich ein gesetzlicher Anspruch auf Übernahme der Kosten einer Kryokonservierung. Dies werde durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) bestätigt. Die Richtlinie des gemeinsamen Bundesausschusses zur Kryokonservierung sei am 20. Februar 2021 in Kraft getreten. In dieser Richtlinie sei eine Übergangsregelung vorgesehen für Fälle, in denen Versicherte aufgrund ihrer Erkrankung und deren Behandlung ihr Gewebe bereits haben Kryokonservierung lassen oder mit den Maßnahmen zur Kryokonservierung im Sinne dieser Richtlinie bereits begonnen haben. Bei ihr seien Diagnose, medizinische Indikation, Antrag und sämtliche Behandlungsmaßnahmen der Kryokonservierung nach dem Inkrafttreten der Kryokonservierung...