Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Kindergeld. Anspruch auf Kindergeld für sich selbst. fehlende Kenntnis vom Aufenthaltsort der Eltern. Erfolglosigkeit aller zumutbaren Maßnahmen zur Aufenthaltsermittlung
Orientierungssatz
Ein Anspruch auf Kindergeld für sich selbst besteht, wenn das Kind den Aufenthaltsort der Eltern nicht kennt und alle zumutbaren Maßnahmen zur Ermittlung des Aufenthaltsortes erfolglos bleiben.
Tenor
Der Bescheid vom 18.10.2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 07.01.2020 wird aufgehoben und die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger vom 01.07.2019 bis 30.06.2020 Kindergeld in gesetzlichem Umfang zu gewähren.
Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung von Kindergeld an den Kläger selbst.
Der 1998 in Ghana geborene Kläger kam nach eigenen Angaben Ende 2014 nach Deutschland. Nachdem er zunächst in München gemeinsam mit seinem Vater gewohnt hat, gelangte er in 2015 nach A-Stadt und hier wurde das Jugendamt der Stadt Kassel zum Vormund bestellt. Der Kläger hat einen spanischen Pass. Bis Ende Juni 2020 hat der Kläger in A-Stadt die Fachoberschule besucht und Schüler-BAföG erhalten. Ab Juli 2020 steht der Kläger in einem Beschäftigungsverhältnis in Vollzeit. Das Jugendamt der Stadt Kassel stellte für den Kläger im November 2016 einen Antrag auf Kindergeld und gab an, der derzeitige Aufenthalt der Eltern sei dem Kläger nicht bekannt. Dem Kläger wurde sodann ab März 2015 bis einschließlich Juni 2019 Kindergeld gewährt, das zunächst bis Mitte 2018 an das Jugendamt gezahlt wurde.
Am 23.08.2019 stellte der Kläger bei der Beklagten für sich einen Antrag auf Auszahlung von Kindergeld. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 18.10.2019 mit der Begründung ab, die Voraussetzungen für Kindergeld an sich selbst nach Maßgabe des § 1 Abs. 2 BKGG würden nicht vorliegen. Es seien keine Bemühungen oder Bemühungen anderer Personen dargelegt worden, den Aufenthalt der Eltern zu ermitteln.
Den hiergegen vom Kläger am 23.10.2019 eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 07.01.2020 als unbegründet zurück. Dazu führte die Beklagte aus, gemäß § 1 Abs. 2 BKGG erhalte Kindergeld für sich selbst, wer u. a. den Aufenthalt der Eltern nicht kenne. Dem Tod der Eltern (Vollwaise) sei damit die Unkenntnis des Kindes von ihrem Aufenthalt gleichgestellt. Die Unkenntnis des Aufenthalts der Eltern sei nach den subjektiven Maßstäben des Kindes zu beurteilen (BSG, Urteil vom 08.04.1992,10 RKg 12/91, DBIR3929 BKGG/§ 1). Sei kein Aufgebotsverfahren zum Zwecke einer Todeserklärung beantragt oder kein Aufgebot erlassen worden, müsse zumindest unterstellt werden können, dass das Kind es nicht grob fahrlässig oder vorsätzlich unterlassen habe, Hinweisen auf den Aufenthalt seiner Eltern nachzugehen. Vom Kind seien daher zumindest die Umstände der Trennung von seinen Eltern sowie eigene oder fremde Bemühungen zur Ermittlung ihres Aufenthaltsortes und Anhaltspunkte für eine Verschollenheit darzulegen und diese Erklärungen möglichst durch Geschwister oder sonstige Verwandte bestätigen zu lassen. Die Voraussetzungen zur Berücksichtigung des Klägers als Vollwaise bzw. Kind, das den Aufenthalt der Eltern nicht kenne, würden nicht vorliegen. Der Gesetzgeber habe unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des Kindergeldes und von gesetzessystematischen Bedenken eine eng begrenzte Ausnahmeregelung unter Härtegesichtspunkten schaffen und Kindergeld für sich selbst nur einem entsprechend eng begrenzten Personenkreis zukommen lassen wollen (BT-Drs.10/2563, Seite 3). Die letztlich beschlossene Gesetzesfassung gehe allerdings über die Beschlussvorlage hinaus, in dem die vorliegend allein in Betracht kommende Variante der Unkenntnis des Aufenthaltes der Eltern eingefügt worden sei. Mit der gesetzlichen Regelung habe entgegen der Ansicht des vom Sozialgericht Mainz im Urteil vom 22.09.2015 im Verfahren S 14 KG 4/15 keinen Anspruch auf Kindergeld für sich selbst für den Fall geschaffen werden sollen, dass die Eltern aufgrund eines ständigen Auslandsaufenthaltes keinen Kindergeldanspruch hätten oder dem Kind keinen Unterhalt leisten könnten (Hessisches Landessozialgericht - LSG -, Urteil vom 25.06.2014, L 6 KG 3/11, in juris). Mit dem Merkmal sollten Kinder erfasst werden, die mangels Kontakt nicht wüssten, wo ihre Eltern sich aufhalten würden und letztlich nicht wissen könnten, ob sie noch am Leben seien und jemals die Elternstelle wieder einnehmen könnten. Nur dadurch sei ihre Gleichstellung mit den Vollwaisen erklärbar. Die Gleichstellung der Unkenntnis des Aufenthalts der Eltern mit deren Tod oder Verschollenheit rechtfertige sich aber allein daraus, dass in derartigen Fällen ein Kindergeldanspruch der Eltern unter keinen Umständen denkbar sei. Bereits die hypothetische Möglichkeit der Eltern, den Wohnsitz ins Inland zu verlegen, schließe den Kindergeldanspruch des Kindes für sich selbst aus, und zwar unabhängig davon, ob ...