Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Rechtsweg. Klageerhebung bei nicht existentem Gericht. Auslegung. Streit über berufsrechtliche Pflichten eines Privatarztes. keine Angelegenheit der gesetzlichen Krankenversicherung. keine Eröffnung des Sozialrechtswegs durch landesrechtliche Regelung zur Teilnahme an ärztlichem Bereitschaftsdienst

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zur Auslegung einer Klage, die an ein nicht existentes Gericht adressiert ist.

2. Der Streit über berufsrechtliche Pflichten eines sog Privatarztes stellt keine Angelegenheit der gesetzlichen Krankenversicherung dar.

3. Der Sozialrechtsweg wird auch nicht durch eine landesrechtliche Regelung eröffnet, die niedergelassene Ärzte verpflichtet, an dem von der Kassenärztlichen Vereinigung organisierten Ärztlichen Bereitschaftsdienst teilzunehmen.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 05.05.2021; Aktenzeichen B 6 SF 4/20 R)

 

Tenor

Der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist unzulässig.

Der Rechtsstreit wird an das Verwaltungsgericht Wiesbaden verwiesen.

 

Gründe

Ist der beschrittene Rechtsweg unzulässig, spricht das Gericht dies gemäß § 17a Abs. 2 Satz 1, Abs. 3, Abs. 4 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) nach Anhörung der Parteien von Amts wegen vorab durch begründeten Beschluss aus und verweist den Rechtsstreit zugleich an das zuständige Gericht des zulässigen Rechtswegs.

Ein solcher Fall ist hier gegeben. Der Kläger hat - entsprechend der Rechtsmittelbelehrung in dem streitgegenständlichen Widerspruchsbescheid - das Sozialgericht Marburg angerufen. Der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist jedoch nicht eröffnet. Für den vorliegenden Streitgegenstand ist nach § 40 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) der Verwaltungsrechtsweg gegeben. Denn es handelt sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art, die nicht durch Bundesgesetz einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen ist.

Die Klageschrift ist von dem (seinerzeit unvertretenen) Kläger an das „Verwaltungsgericht Marburg“ adressiert worden. Dies macht die erhobene Klage auslegungsbedürftig, denn ein solches Gericht existiert nicht. Für die Auslegung von Prozesshandlungen ist auch im sozialgerichtlichen Verfahren die Regelung des § 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) heranzuziehen. Danach ist bei der Auslegung der wirkliche Wille zu erforschen und nicht am Wortlaut zu haften (so wörtlich Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, Vor § 60 Rn. 11a). Dabei ist die Kammer zu der Überzeugung gelangt, dass die Klage an das Sozialgericht Marburg gerichtet ist. Dafür spricht, dass die Klageschrift dessen vollständige Anschrift fehlerfrei enthält und an dessen Faxnummer geschickt worden ist. Zudem hat der (nunmehr anwaltlich vertretene) Kläger auf Anfrage des Gerichts mitgeteilt, dass er das Sozialgericht Marburg anrufen wollte, weil er sich an der Rechtsmittelbelehrung in dem streitgegenständlichen Widerspruchsbescheid orientiert hat. Dieser innere Wille kommt in der Klageschrift auch hinreichend nach außen zum Ausdruck, so dass ihn ein objektiver Dritter in der Position des (unter seiner korrekten Adresse angeschriebenen) Empfängers verstehen konnte. Das zeigt sich schon daran, dass zunächst weder die Poststelle noch die Geschäftsstelle noch der zuständige Kammervorsitzende die Falschbezeichnung des angerufenen Gerichts bemerkt hat.

Der damit wirksam beschrittene Rechtsweg zu den Sozialgerichten ist jedoch unzulässig, weil es an einer dementsprechenden Spezialzuweisung fehlt.

Zwischen den Beteiligten ist eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit anhängig. Davon ist auszugehen, wenn sie aus Rechtsbeziehungen erwachsen ist, die öffentliche Aufgaben regeln oder wenn ein Hoheitsträger auf Grund besonderer, speziell ihn berechtigender oder verpflichtender Rechtsvorschriften beteiligt ist (so Herold-Tews/Merkel, Der Sozialgerichtsprozess, 7. Auflage 2017, Rn. 2). Die Beteiligten streiten um den Umfang der Verpflichtung des Klägers, zur (zumindest finanziellen) Unterstützung des von der Beklagten organisierten Ärztlichen Bereitschaftsdienstes (ÄBD). Die Beklagte ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, die im vorliegenden Fall hoheitlich gehandelt hat, indem sie dem Kläger einseitig ein zukünftiges Verhalten abverlangt (oder dies zumindest in Aussicht gestellt) hat. Eine solche Vorgehensweise ist nur im öffentlich-rechtlichen Über-/Unterordnungsverhältnis denkbar. Dabei stützt sich die Beklagte auf (für das Klageverfahren folglich streitentscheidende) Rechtsvorschriften, die dem öffentlichen Recht zuzuordnen sind (Hessisches Heilberufsgesetz, Berufsordnung für die Ärztinnen und Ärzte in Hessen, Bereitschaftsdienstordnung der Beklagten). Schließlich hat sich die Beklagte dabei auch den Handlungsformen des Verwaltungsrechts bedient (Erlass eines Verwaltungsakts - zumindest dem äußeren Anschein nach).

Die zwischen den Beteiligten anhängige Streitigkeit ist offensichtlich nichtverfassungsrechtlicher Art. Weder hand...

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