Orientierungssatz

Parallelentscheidung zu dem Beschluss des SG Marburg vom 11.5.2020 - S 11 KA 1/20, der vollständig dokumentiert ist.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 05.05.2021; Aktenzeichen B 6 SF 9/20 R)

 

Tenor

Der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist unzulässig.

Der Rechtsstreit wird an das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main verwiesen.

 

Gründe

Ist der beschrittene Rechtsweg unzulässig, spricht das Gericht dies gemäß § 17a Abs. 2 Satz 1, Abs. 3, Abs. 4 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) nach Anhörung der Parteien von Amts wegen vorab durch begründeten Beschluss aus und verweist den Rechtsstreit zugleich an das zuständige Gericht des zulässigen Rechtswegs.

Ein solcher Fall ist hier gegeben. Der Kläger hat - entsprechend der Rechtsmittelbelehrung in dem streitgegenständlichen Widerspruchsbescheid - das Sozialgericht Marburg angerufen. Der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist jedoch nicht eröffnet. Für den vorliegenden Streitgegenstand ist nach § 40 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) der Verwaltungsrechtsweg gegeben. Denn es handelt sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art, die nicht durch Bundesgesetz einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen ist.

Zwischen den Beteiligten ist eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit anhängig. Davon ist auszugehen, wenn sie aus Rechtsbeziehungen erwachsen ist, die öffentliche Aufgaben regeln oder wenn ein Hoheitsträger auf Grund besonderer, speziell ihn berechtigender oder verpflichtender Rechtsvorschriften beteiligt ist (so Herold-Tews/Merkel, Der Sozialgerichtsprozess, 7. Auflage 2017, Rn. 2). Die Beteiligten streiten um den Umfang der Verpflichtung des Klägers, zur (zumindest finanziellen) Unterstützung des von der Beklagten organisierten Ärztlichen Bereitschaftsdienstes (ÄBD). Die Beklagte ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, die im vorliegenden Fall hoheitlich gehandelt hat, indem sie dem Kläger einseitig ein zukünftiges Verhalten abverlangt (oder dies zumindest in Aussicht gestellt) hat. Eine solche Vorgehensweise ist nur im öffentlich-rechtlichen Über-/Unterordnungsverhältnis denkbar. Dabei stützt sich die Beklagte auf (für das Klageverfahren folglich streitentscheidende) Rechtsvorschriften, die dem öffentlichen Recht zuzuordnen sind (Hessisches Heilberufsgesetz, Berufsordnung für die Ärztinnen und Ärzte in Hessen, Bereitschaftsdienstordnung der Beklagten).

Die zwischen den Beteiligten anhängige Streitigkeit ist offensichtlich nichtverfassungsrechtlicher Art. Weder handelt es sich um ein Rechtsverhältnis, das maßgeblich durch Verfassungsrecht geprägt ist, noch geht es um Rechte und Pflichten, die unmittelbar und ausschließlich in der Verfassung geregelt sind (vgl. zu diesen Anforderungen nur BVerwG, Urteil vom 15. Juli 2016 - 9 A 16/15, NVwZ 2017, 56 ff.). Bei den o.g. streitentscheidenden Normen handelt es sich um einfaches, z.T. sogar untergesetzliches Recht. Dass sich ein Bürger gegen eine vermeintliche Grundrechtsverletzung durch einen Verwaltungsträger wendet, genügt dagegen nicht, um eine verfassungsrechtliche Streitigkeit i.S.d. § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO anzunehmen.

Eine - bezogen auf den somit grundsätzlich eröffneten Verwaltungsrechtsweg - abdrängende Sonderzuweisung liegt nicht vor. Es fehlt insbesondere an der Zulässigkeit des Sozialrechtswegs gemäß § 51 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Nach der hier allein in Betracht kommenden Regelung des § 51 Abs. 1 Nr. 2 SGG entscheiden die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit über öffentlich-rechtliche Streitigkeiten in Angelegenheiten der gesetzlichen Krankenversicherung, auch soweit durch diese Angelegenheiten Dritte betroffen werden. Die zwischen den Beteiligten anhängige Streitigkeit stellt indes keine Angelegenheit der gesetzlichen Krankenversicherung dar (ebenso im Ergebnis wohl Rademacker in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Werkstand: 107. EL Dezember 2019, § 75 SGB V Rn. 39; Sproll in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung, Werkstand: 105. EL Januar 2020, § 75 SGB V Rn. 13c; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 9. Juni 1982 - 3 C 21/81, BVerwGE 65, 362 ff. = NJW 1983, 1387 f. zu einer gemeinsamen Notfalldienstordnung der Ärztekammer und der Kassenärztlichen Vereinigung).

Wie sich aus den zahlreichen auf das Vertragsarztrecht bezogenen Sonderregeln des SGG ergibt, die im Katalog des § 51 SGG keine ausdrückliche Entsprechung finden, zählt dieses Rechtsgebiet zu den Angelegenheiten der gesetzlichen Krankenversicherung (allgemeine Meinung; statt aller Flint in: jurisPK-SGG, § 51 Rn. 96, Stand: 4. Mai 2020). Besonders deutlich wird diese gesetzgeberische Zuordnung in der Vorschrift des § 57a SGG, wo von „Vertragsarztangelegenheiten der gesetzlichen Krankenversicherung“ die Rede ist. Der vorliegende Rechtsstreit ist indes nicht dem Vertragsarztrecht zuzuordnen, weil es sich bei dem Kläger nicht um einen Vertragsarzt, sondern um einen sog. Privatarzt handelt. Er verfügt weder über eine Zulassung noch über ...

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