Leitsatz (amtlich)
Bei Verkehrsunfällen mit Kraftfahrzeugen ist einem Beweisangebot "unfallanalytisches Gutachten" heutzutage fast immer nachzugehen.
Verfahrensgang
LG Meiningen (Urteil vom 29.01.2010; Aktenzeichen 1 O 219/09) |
Tenor
I. Die Berufungen der Klägerin und der Drittwiderbeklagten gegen das Endurteil des LG Meiningen vom 29.1.2010 werden zurückgewiesen.
II. Von den Kosten des Berufungsverfahrens haben die Klägerin 4/5 und die Drittwiderbeklagten 1/5 zu tragen.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Sachverhalt wird in den Entscheidungsgründen mitgeteilt: Verkehrsunfall im kreuzenden Verkehr, Linksabbieger biegt von bevorrechtigter Straße nach links in untergeordnete Straße und kollidiert dort mit einem auf der untergeordneten Straße entgegenkommenden Fahrzeug.
Entscheidungsgründe
I. Auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil wird gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO Bezug genommen. Im Übrigen wird von der Darstellung des Tatbestandes gem. §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 Satz 1 ZPO abgesehen.
II. Die Berufungen haben keinen Erfolg. Sie sind zwar zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 511 Abs. 1, 2 Nr. 1, 517, 519, 520 ZPO). Den Drittwiderbeklagten ist Wiedereinsetzung in die Berufungsbegründungsfrist bewilligt worden (§ 233 ZPO).
1.) Die Berufung der Klägerin ist unbegründet. Denn das LG hat ihre Klage zu Recht abgewiesen und der gegen sie gerichteten Widerklage zu Recht stattgegeben.
a.) Die Klage ist unbegründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagten aus dem Verkehrsunfall vom 27.10.2008 in S. keinen Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1, 2 BGB i.V.m. § 2 Abs. 2, § 3 Abs. 1, § 8 StVO, §§ 7 Abs. 1, 17, 18 Abs. 1 StVG, § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG. Die letztgenannte Vorschrift, aus der sich der versicherungsrechtliche Direktanspruch ergibt, ist mit Wirkung ab 1.1.2008 an die Stelle von § 3 Nr. 1 PflVG a.F. getreten (Gesetz vom 23.11.2007, BGBl. 2007, Teil I, Seite 2631).
Das Verschulden der Beklagten zu 1, die keine Halterin, sondern nur Fahrerin ist, wird nach § 18 Abs. 1 StVG vermutet. Sie muss beweisen, dass sie keinen Fahrfehler begangen hat. Dieser Beweis ist ihr durch das vom Senat eingeholte unfallanalytische Gutachten des Sachverständigen N. gelungen. Danach war der Verkehrsunfall für sie weder räumlich noch zeitlich vermeidbar.
Ihrem Beweisangebot "unfallanalytisches Gutachten" ist das LG verfahrensfehlerhaft nicht nachgegangen. Es hat auch keine Ausführungen dazu gemacht, warum es von der Einholung eines Gutachtens absieht.
Die Ablehnung des Beweisantrags auf Einholung eines unfallanalytischen Sachverständigengutachtens verletzte den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Zur Ablehnung eines solchen Beweisantrags hat das BVerfG ausgeführt, dass einem Beweisangebot nach den Bestimmungen des Zivilprozessrechts (nur) dann nicht nachzukommen ist, wenn das angebotene Beweismittel ungeeignet ist, weil es im Einzelfall völlig ausgeschlossen erscheint, dass das Beweismittel zum Beweisthema sachdienliche Ergebnisse erbringen kann (BVerfG, Beschluss v. 9.10.2007, 2 BvR 1268/03, jurisPR extra 2008, 121 ff.).
Danach können Beweisanträge auf Einholung eines unfallanalytischen Sachverständigengutachtens (sog. Unfallrekonstruktionsgutachten) in der richterlichen Praxis nur in ganz seltenen Fällen abgelehnt werden (Elsner, jurisPR-VerkR 9/2008 Anm. 5). Denn bereits die Frage, welcher Umstand als Anknüpfungstatsache geeignet ist, kann im Regelfall nur von einem Sachverständigen beantwortet werden (Leipold, in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl. 2006, § 403 Rz. 4). Oft ist bei der Unfallrekonstruktion beispielsweise gerade der Kollisionsort nicht bekannt, gleichwohl ist es nicht ausgeschlossen, dass ein Sachverständiger brauchbare Gutachtensergebnisse zum Unfallhergang liefern kann (Winninghoff/Walter, in: Hugemann, Unfallrekonstruktion, 2007, Band 2, Seite 827).
Anknüpfungstatsachen sind im vorliegenden Fall die Schadensbilder an den beiden Fahrzeugen, die eine kollisionsmechanische Zuordnung ermöglichen, ferner die Unfallörtlichkeit, deren Vermessung, die Parteiangaben und die Zeugenaussagen. Außerdem kommt eine sog. unfallanalytische Weg-Zeit-Rekonstruktion in Betracht. Eine solche kommt gerade dann in Betracht, wenn Bremsspuren auf der Fahrbahn fehlen (Becke, in: Schimmelpfennig/Becke, Unfallrekonstruktion und -gutachten in der verkehrsrechtlichen Praxis, 2011, Rz. 614 ff.; Kornau, ebenda, Rz. 130; Morawski, in: Hugemann, Unfallrekonstruktion, Band 1, 2007, Seite 306). Zudem haben neuere Fahr- und Bremsversuche gezeigt, dass entgegen weit verbreiteter Meinung auch Fahrzeuge mit ABS-Systemen zum Teil deutliche Bremsspuren auf der Fahrbahn hinterlassen (Rausch, in: Schimmelpfennig/Becke, Unfallrekonstruktion und -gutachten in der verkehrsrechtlichen Praxis, 2011, Rz. 619 ff., 632; Leser/Wiek, in: Hugemann, Unfallrekonstruktion, Band 1, 2007, Seite 335). Darüber hinaus liefern heute compute...