Ein Überholen bei unklarer Verkehrslage liegt nur vor, wenn nach allen Umständen mit einem gefahrlosen Überholen nicht gerechnet werden darf, etwa weil sich nicht verlässlich beurteilen lässt, was der Vorausfahrende sogleich tun wird. Eine unklare Verkehrslage liegt nicht schon dann vor, wenn das vorausfahrende Fahrzeug langsam fährt. Auch das Vorliegen einer Kolonne allein würde nicht dazu führen, dass eine unklare Verkehrslage vorlag (OLG Brandenburg, Urt. v. 9.3.2023 – 12 U 120/22, NZV 2023, 565 [Bachmor]). Der Fahrer, der mit seinem Fahrzeug einen einzelnen, in zweiter Reihe parkenden Lkw überholt, hat nicht damit zu rechnen, dass ein aus seiner Fahrtrichtung gesehen hinter dem Lkw in die Straße Einfahrender seinen Vorrang nicht beachten wird (kein sog. Lückenfall; OLG Nürnberg, Urt. v. 4.10.2023 – 6 U 2212/22, zfs 2024, 86). Ein Rechtsüberholen ist nach den Maßgaben des § 5 Abs. 7 S. 1 StVO zulässig, sofern ein vorausfahrendes Fahrzeug seine Absicht anzeigt, nach links abzubiegen, und wenn es sich entsprechend nach links eingeordnet hat. Es besteht kein Anlass, allein aufgrund der Nichtbeachtung eines Linksabbiegeverbots durch den Linksabbieger von einem generellen Verbot des Rechtsüberholens für den nachfolgenden Verkehr auszugehen, zumal andere Vorgaben – etwa § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO und § 1 Abs. 2 StVO – taugliche Verhaltensgebote für die in Rede stehende Situation vorsehen (OLG Dresden, Urt. v. 5.1.2023 – 8 U 901/22, NZV 2023, 520 [Bachmor]). Wer an einem stehenden Fahrzeug vorbeifährt, muss nach dem allgemeinen Gebot der Gefährdungsvermeidung aus § 1 Abs. 2 StVO einen angemessenen Seitenabstand einhalten. Grundsätzlich reicht zwar ein Seitenabstand von ca. 50 cm eines vorbeifahrenden Pkw zu einem geparkten Pkw aus. Ein Seitenabstand von unter 1 m genügt jedoch dann nicht, wenn auf dem Seitenstreifen neben der Fahrbahn ein Pkw mit geöffneter Fahrzeugtür steht und jederzeit mit einem weiteren Öffnen der Tür gerechnet werden muss oder in der geöffneten Fahrzeugtür eine Person steht (LG Saarbrücken, Urt. v. 10.11.2023 – 13 S 8/23, DAR 2024, 16).
Der Vorfahrtsberechtigte, der beim Linksabbiegen innerhalb der Kreuzung zu weit nach links ausholt und dadurch die Kurve „schneidet”, verstößt in ganz erheblichem Umfang gegen § 1 Abs. 2 StVO und hat deshalb bei einer Kollision mit einem wartepflichtigen Verkehrsteilnehmer im Kreuzungsbereich die überwiegende Haftung zu tragen (LG München II, Urt. v. 20.1.2023 – 11 O 2351/21, NZV 2023, 569 [Lempp]). Wer vom Parkplatz auf die Straße einfährt, ist auch dann nicht von den erhöhten Sorgfaltspflichten des § 10 StVO entbunden, wenn sich auf der bevorrechtigten Straße eine Fußgängerampel befindet, deren Rotlicht den Verkehr sperrt. Die Zeichengebung einer Ampel an einer Fußgängerfurt dient nur dem Schutz des dortigen Fußgängerverkehrs, nicht aber der Regelung der Verkehrsverhältnisse zur Einfahrt in die Straße (OLG Schleswig, Urt. v. 14.2.2023 – 7 U 63/22, DAR 2023, 572). Für die Einordnung des Charakters einer Verkehrsfläche als Straße oder als Grundstückszufahrt kommt es insb. auf die Verkehrsbedeutung, wie sie sich aus dem Gesamtbild der äußerlich erkennbaren Merkmale ergibt, an. Einzig der Umstand, dass eine Abgrenzung der Straßenteile durch einen abgesenkten Bordstein nicht vorliegt, sondern der gesamte Einmündungsbereich asphaltiert ist, spricht für sich genommen noch nicht für zwei gleichrangige Straßen (OLG Brandenburg, Urt. v. 2.4.2009 – 12 U 214/08, NZV 2024, 131 [Bachmor]). Kann der in einen mehrspurigen Kreisverkehr Einfahrende zwar erkennen, dass sich auf der inneren Fahrspur ein Fahrzeug nähert, nicht jedoch, dass dieses den Fahrstreifen wechseln wird, liegt keine Vorfahrtsverletzung des Einfahrenden vor. Es besteht keine Verpflichtung, dass dieser warten muss, bis sich kein Fahrzeug erkennbar nähert (AG Bonn, Urt. v. 25.10.2022 – 113 C 169/21, DAR 2023, 633).
Das Vorschriftszeichen 220 i.V.m. § 41 Abs. 1 StVO gebietet, dass die Einbahnstraße nur in vorgeschriebener Fahrtrichtung befahren werden darf. Verboten ist auch das Rückwärtsfahren entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung. Lediglich (unmittelbares) Rückwärtseinparken („Rangieren”) ist – ebenso wie Rückwärtseinfahren aus einem Grundstück auf die Straße – kein unzulässiges Rückwärtsfahren auf Richtungsfahrbahnen gegen die Fahrtrichtung (BGH, Urt. v. 10.10.2023 – VI ZR 287/22, NJW 2024, 146 = DAR 2014, 19 m. Anm. Nugel = VRR 2/2024, 11 [Deutscher] = NZV 2024, 92 [Krenberger]). Auch das Rückwärtsfahren mit einem Anhänger ist ein „Ziehen” i.S.v. § 19 Abs. 4 S. 4 StVG (BGH, Urt. v. 14.11.2023 – VI ZR 98/23, zfs 2024, 134 = VRR 3/2024, 15 [Burhoff]).
Auf Parkplätzen ohne eindeutigen Straßencharakter müssen Fahrzeugführer entsprechend § 9 Abs. 5 StVO i.V.m. § 1 StVO, um der Verpflichtung zur gegenseitigen Rücksichtnahme zu genügen, von vornherein mit geringerer Geschwindigkeit und bremsbereit fahren, um jederzeit anhalten zu können (OLG Hamm, Beschl. v. 9.2.2023 – I-7 U 3/23, VRS 145, 134 = NZV 2023, 469 [Sy...