Besitzt ein Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis, kann ihm im Ausweisungsverfahren je nach Fallkonstellation ein besonders schwerwiegendes (vgl. § 55 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 3 AufenthG) oder schwerwiegendes (vgl. § 55 Abs. 2 Nr. 1, 2 u. 6 AufenthG) Bleibeinteresse zur Seite stehen, mit der Folge, dass die von § 53 Abs. 1 AufenthG geforderte umfassende Interessenabwägung ggf. zu seinen Gunsten ausfällt. In der Rechtspraxis kommt es indes regelmäßig vor, dass zum Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung die Geltungsdauer der innegehabten Aufenthaltserlaubnis zwar abgelaufen ist, ihre Verlängerung aber rechtzeitig beantragt wurde und sie gem. § 81 Abs. 4 S. 1 AufenthG bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde über den Antrag als fortbestehend gilt. Die Frage, ob diese Fiktionswirkung den nach § 55 Abs. 1 bzw. Abs. 2 AufenthG erforderlichen Besitz einer Aufenthaltserlaubnis darstellt, steht im Zentrum des Urt. v. 16.11.2023 und wird vom BVerwG in Übereinstimmung mit der überwiegenden Auffassung in Rspr. und Lit. im Ergebnis verneint (BVerwG, Urt. v. 16.11.2023 – 1 C 32.22, NVwZ-RR 2024, 302). Dabei verweist das Gericht zunächst auf den Wortlaut („Aufenthaltserlaubnis [...] besitzt”), der deutlich mache, dass die Aufenthaltserlaubnis zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung über die Ausweisung tatsächlich vorhanden und damit bereits erteilt sein müsse. In systematischer Hinsicht folge aus § 55 Abs. 3 AufenthG, dass ein besonders schwerwiegendes oder ein schwerwiegendes Bleibeinteresse nicht schon dann aus der Antragstellung hergeleitet werden könne, wenn sie nach § 81 Abs. 4 S. 1 AufenthG zur Folge habe, dass ein zuvor erteilter Aufenthaltstitel als fortbestehend gelte, sondern erst dann, wenn dem Antrag entsprochen werde. Die bloße Antragstellung reiche damit für die Begründung eines vertypten Bleibeinteresses nicht aus. Dieses Verständnis entspreche ferner dem aus den Gesetzesmaterialien abzuleitenden Zweck des Tatbestandsmerkmals, das nur den Inhaber eines Aufenthaltstitels schützen will. Aus Art. 19 Abs. 4 GG und dem Recht auf ein faires gerichtliches Verfahren folge nichts anderes, weil sich aus diesen verfassungsrechtlichen Gewährleistungen selbst eine materiell geschützte Rechtsposition – hier ein vertyptes Bleibeinteresse i.S.v. § 55 Abs. 1 oder 2 AufenthG – nicht ergebe, sondern sie darin vorausgesetzt werde.
Im Streitfall war die vom BVerwG präferierte Auslegung für den dortigen Kläger insofern nicht von Nachteil, als die Katalogisierung der Bleibeinteressen in § 55 AufenthG eine Berücksichtigung weiterer unbenannter Bleibeinteressen nicht ausschließt und das Oberverwaltungsgericht ohne Rechtsfehler davon ausgegangen war, dass das dem Kläger zur Seite stehende Bleibeinteresse seinem Gewicht nach dem in § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG normierten Interesse entspreche.
Hinweis:
In der Entscheidung beschäftigt sich das BVerwG auch mit der Rechtsfigur des sog. faktischen Inländers und spricht dem Kläger diese Eigenschaft – anders als das OVG – zu. Der Kläger lebe von Geburt an in Deutschland, habe im Bundesgebiet einen Schulabschluss erlangt, sei im Anschluss daran – abgesehen von der Zeit seiner Inhaftierung – berufstätig gewesen und habe sich lediglich einmal für zwei Wochen in Sri Lanka aufgehalten. Daher sei er in einer Weise als im Bundesgebiet verwurzelt und in Sri Lanka entwurzelt anzusehen, die es rechtfertige, ihn als faktischen Inländer zu behandeln. An der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung hat diese Einordnung indes nichts geändert, weil auch die Ausweisung eines sog. faktischen Inländers nicht von vornherein unzulässig ist und die erhöhten rechtlichen Anforderungen (auch) nach Auffassung des BVerwG im entschiedenen Fall erfüllt waren.