Im Unterschied zum nur baugebietsbezogenen Gebietsgewährleistungsanspruch wirkt das Gebot der Rücksichtnahme baugebietsübergreifend. Unter dem Gebot der Rücksichtnahme versteht man eine nachbarschützende Situation, die aus einem konkreten normativen Tatbestandsmerkmal abgeleitet werden kann. Allen Normen, denen das Gebot der Rücksichtnahme innewohnt, haben gemein, dass sie eine Zurücknahme der Interessen des Bauherrn verlangen, um Interessen des Nachbarn zu schützen. Abhängig davon, an welchem planungsrechtlichen Rahmen das konkrete Bauvorhaben zu messen ist, ist das Gebot der Rücksichtnahme aus verschiedenen Normen abzuleiten:
- Geltungsbereich eines Bebauungsplans: § 15 Abs. 1 S. 2 BauNVO („von ihnen Belästigungen oder Störungen ausgehen” bzw. „sie Belästigungen oder Störungen ausgesetzt werden”),
- Unbeplanter Innenbereich: § 34 Abs. 1 BauGB („einfügen”),
- Außenbereich: § 35 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 BauGB („schädliche Umwelteinwirkungen hervorrufen kann oder ihnen ausgesetzt wird”).
- Befreiung: § 31 Abs. 2 BauGB („unter Würdigung nachbarlicher Interessen”)
Materiell-rechtlich erfolgt die Prüfung des Gebots der Rücksichtnahme in Form einer Abwägung der widerstreitenden Interessen des Nachbarn und des Bauherrn. Das Bundesverwaltungsgericht hat hierzu folgenden Obersatz entwickelt:
Zitat
„Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugutekommt, umso mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Bei diesem Ansatz kommt es für die sachgerechte Beurteilung des Einzelfalles wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem an, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist” (BVerwG, Urt. v. 18.11.2004 – 4 C 1.04, juris Rn 22).
In der konkreten Abwägung sind die jeweiligen Rechtspositionen hinsichtlich ihrer Schutzwürdigkeit und -bedürftigkeit ins Verhältnis zusetzen.
Um sich auf das Gebot der Rücksichtnahme berufen zu können, muss der Nachbar individuell und qualifiziert betroffen sein. Hierzu ist zu untersuchen, ob die Auswirkungen des baulichen Vorhabens über eine Bagatellschwelle hinaus auf das Nachbargrundstück wirken.