Rechtsprechungskehrtwende
Mit diesem Urteil weicht der IX. Senat von seiner bisherigen Rechtsprechung (Urt. v. 20.4.2004 – IX R 5/02, BStBl II 2004, 987) und der Auffassung der Finanzverwaltung (BMF, Schreiben v. 14.3.2006 – IV B 2 – S 2242 – 7/06, ZEV 2006, 154 Rn 37, 41–43) ab und gleicht seine Rechtsprechung für die Erbengemeinschaft an die in den Urteilen des X. Senats gefundenen Grundsätze zu Personengesellschaften an (BFH, Urt. v. 4.10.1990 – X R 148/88, BStBl II 1992, 211; BFH, Urt. v. 7.10.1996 – X R 103/95, BStBl II 1997, 678). Der Argumentation des IX. Sentas lag im Wesentlichen die Anmerkung von Tiedtke und Wälzholz (ZEV 2004, 296, vgl. auch ausführlich Tiedtke/Wälzholz, BB 2001, 234, 237–239) zugrunde, mit der die Vorgenannten dem Urt. v. 20.4.2004 (Az. IX R 5/02) entgegentraten.
Die Argumentation des IX. Senats überzeugt, da sie eng am Wortlaut von § 23 Abs. 1 EStG erfolgt. Zum einen erfasst der Wortlaut des § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG nur Grundstücke bzw. grundstücksgleiche Rechte und keine gesamthänderische Beteiligung an einer Erbengemeinschaft. Zum anderen ist die Fiktion des § 23 Abs. 1 S. 4 EStG auf die Gesamthand "Personengesellschaft" beschränkt.
Neue Gestaltungsmöglichkeiten?
Diese Rechtsprechungskehrtwende ist aus Sicht von Erbengemeinschaften erfreulich. Sie eröffnet eine Vielzahl an weiteren Gestaltungsmöglichkeiten, durch die "missglückte" Erbfälle nunmehr mit einem Erbteilkauf ertragsteuerneutral "repariert" werden können:
Wenngleich im Besprechungsurteil nur die Erbteilkäuferseite entschieden wurde, nutzt diese neue Rechtsprechung spiegelbildlich dem Erbteilverkäufer. Denn wenn der Erbteilkauf für den Käufer keine Anschaffung i.S.d. § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG ist, kann es sich beim Erbteilverkauf für den Verkäufer konsequenterweise um kein steuerpflichtiges Veräußerungsgeschäft handeln.
Die Grundsätze des Besprechungsurteils wirken sich auch auf Erbteilkäufe mit Grundstücken im Nachlass aus, bei denen die zehnjährige Spekulationsfrist für die Nachlassimmobilie noch nicht abgelaufen ist. In diesen Fällen übernimmt der Erbteilkäufer die beim Erblasser und beim Erbteilverkäufer angelaufene Spekulationsfrist (§ 1922 BGB) sowie die Anschaffungskosten (§ 23 Abs. 1 S. 3 EStG) des Erblassers (vgl. Trossen, DStR 2024, 24).
Gestaltungsspielraum eröffnet das Besprechungsurteil zudem im Fall einer Erbschaftsausschlagung mit Immobilien im Nachlass gegen Leistung einer Abfindung. Denn die Finanzverwaltung stellt die Erbschaftsausschlagung gegen Abfindung einer entgeltlichen Veräußerung eines Erbteils gleich (BMF, Schreiben v. 14.3.2006 – IV B 2 – S 2242 – 7/06, ZEV 2006, 154, Rn 37). In solchen Fällen ist eine Veräußerung der Nachlassimmobilie ebenso zu verneinen, da die Abfindung für die Ausschlagung gezahlt wird und nicht für die Überlassung eines Grundstücks (so bereits Tiedtke/Wälzholz, BB 2001, 234, 239).
RiBFH Trossen, Mitglied des IX. Senats, wirft in seiner Urteilsanmerkung zudem die Frage auf, ob diese Grundsätze – entgegen der Auffassung der Finanzverwaltung (BMF, Schreiben v. 14.3.2006 – IV B 2 – S 2242 – 7/06, ZEV 2006, 154, Rn 43) – auch auf einen Erbteilkauf anzuwenden sind, bei dem Teil des Nachlasses eine Beteiligung i.S.d. § 17 Abs. 1 S. 1 EStG ist (DStR 2024, 24). Die Argumentation des IX. Senats überzeugt auch in einer solchen Konstellation. Denn Kaufgegenstand ist nicht die Beteiligung i.S.d. § 17 Abs. 1 S. 1 EStG, sondern ein Erbteil, der vom Besteuerungstatbestand des § 17 Abs. 1 S. 1 EStG nicht erfasst ist.
Reaktion der Finanzverwaltung oder des Gesetzgebers?
Aufgrund der weitreichenden denkbaren Gestaltungsmöglichkeiten, die das Besprechungsurteil bietet, ist zu erwarten, dass die Finanzverwaltung mit einem Nichtanwendungserlass reagieren dürfte. Mithin wäre der Klageweg zu bestreiten.
Ferner ist zu vermuten, dass auch der Gesetzgeber wieder tätig wird und § 23 Abs. 1 S. 4 EStG auf sämtliche Gesamthandsgemeinschaften erstreckt.
Dr. Alexander Tegge, Rechtsanwalt, München
ZErb 5/2024, S. 172