Leitsatz
1. Geht ein Erbe irrtümlich davon aus, dass eine gegen den Nachlass gerichtete Forderung verjährt sei, so betrifft dieser Irrtum die Zusammensetzung des Nachlasses in Bezug auf dessen Bestand an Aktiva und Passiva.
2. Der Irrtum des Erben betrift in diesem Fall eine verkehrswesentliche Eigenschaft des Nachlasses, wenn im Rahmen eines Zivilverfahrens durch Urteil festgestellt wird, dass die Forderung nicht verjährt und der Nachlass daher überschuldet ist.
OLG München, Beschluss vom 28. Juli 2015 – 31 Wx 54/15
Sachverhalt
Der Erblasser, der am 10.6.2012 verstorben ist, war in zweiter Ehe mit der Beteiligten zu 1 verheiratet. Aus der Ehe ging der Beteiligte zu 2 hervor. Die Beteiligten zu 3, 4 und 5 sind die Kinder des Erblassers aus erster Ehe. Der Beteiligte zu 3 ist am 27.7.2014 verstorben. Die Beteiligten zu 1 und 2 waren seit August 2012 über ihr Erbrecht informiert; die Beteiligten zu 3, 4 und 5 wurden am 4.9.2012 von dem Nachlassgericht schriftlich über ihre Miterbenstellung in Kenntnis gesetzt. Eine ausdrückliche Annahme der Erbschaft erfolgte von den Beteiligten zu 3, 4 und 5 trotz Monierung durch das Nachlassgericht nicht.
Am 22.3.2013 beantragte die Beteiligte zu 1 einen Erbschein aufgrund gesetzlicher Erbfolge, welcher am gleichen Tag durch das Nachlassgericht erteilt wurde. Die weiteren Erben erhielten am 27.3.2013 eine Abschrift des Erbscheins. Am 22.5.2014 gingen beim Nachlassgericht notariell beglaubigte Ausschlagungs- bzw. Anfechtungserklärungen der Beteiligten zu 3, 4 und 5 ein. Die Anfechtung wurde darauf gestützt, dass erst infolge des Urteils des Landgerichts Ingolstadt vom 10.4.2014 geklärt wurde, dass der Nachlass mit einer Darlehungsschuld iHv 15.338,76 EUR zzgl. 4 % Zinsen seit dem 21.8.1997 belastet ist. Nach der Klageschrift vom 22.10.2013, die die Beteiligte zu 4 im Rahmen der sog. "actio pro socio" für die Erbengemeinschaft bei dem Landgericht Ingolstadt einreichte, vertraten die Beteiligten zu 3, 4 und 5 die Auffassung, dass die Darlehungsforderung verjährt sei. Die Beteiligte zu 1 ist der Meinung, dass sie die Beteiligten zu 3,4 und 5 bereits mit Schreiben vom 22.9.2012, in dem auch das Darlehen aufgeführt sei, von der Überschuldung des Nachlasses in Kenntnis gesetzt hatte. Die Beteiligte zu 4 wandte hiergegen ein, dass ein Schreiben der Beteiligten zu 1 vom 20.9.2012 vorliege, in dem das Darlehen gerade nicht aufgeführt ist. Außerdem sei die Forderung stets streitig gewesen.
Mit Beschluss vom 8.12.2014 lehnte das Nachlassgericht die Einziehung des Erbscheins mit der Begründung ab, die Anfechtung sei unwirksam, da die 6-monatige Anfechtungsfrist abgelaufen sei. Die Anfechtenden hätten bereits mit dem Schreiben der Beteiligten zu 1 Kenntnis von der Überschuldung erlangt. Insoweit seien den Anfechtenden die Verbindlichkeiten dem Grunde nach bekannt gewesen. Ein die Anfechtung begründender Irrtum läge nicht vor, wenn – wie hier – die von Anfang an bekannten Verbindlichkeiten lediglich nachträglich anders bewertet würden. Hiergegen wenden sich die Beteiligten zu 4 und 5.
Aus den Gründen
1. Die zulässige Beschwerde der Beteiligten zu 4 und 5 hat in der Sache Erfolg. Zu Unrecht ist das Nachlassgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass die Voraussetzungen für die Einziehung des Erbscheins vom 22.3.2013 nicht vorliegen.
Entgegen der Auffassung des Nachlassgerichts haben die Beteiligten zu 4 und 5 sowie der mittlerweile verstorbene Beteiligte zu 3 jeweils wirksam mit notarieller Erklärung vom 16.5.2014 die Annahme der Erbschaft infolge "Versäumung der Ausschlagungsfrist" wegen Irrtums über die Überschuldung des Nachlasses angefochten und die Erbschaft nach dem Erblasser aus allen Berufungsgründen ausgeschlagen. Insoweit haben die Ausschlagungserklärungen der Beteiligten zu 3, 4 und 5 deren Erbenstellung gemäß § 1953 Abs. 1 und 2 BGB rückwirkend beseitigt. Hinsichtlich des hier geltend gemachten Anfechtungsgrundes (Überschuldung des Nachlasses aufgrund einer Darlehensschuld von 15.338,76 EUR (30.000 DM) zzgl. 4 % Zinsen seit dem 21.8.1997 (10.274,03 EUR) kommt nur ein Irrtum über verkehrswesentliche Eigenschaften einer Sache gemäß § 119 Abs. 2 BGB in Betracht.
a) Dabei ist als "Sache" im Sinne dieser Vorschrift im Rahmen der Anfechtung gemäß §§ 1954, 1956 BGB die Erbschaft anzusehen, d. h. der dem Erben angefallene Nachlass oder Nachlassteil. Insoweit ist allgemein anerkannt, dass die Überschuldung der Erbschaft eine verkehrswesentliche Eigenschaft gemäß § 119 Abs. 2 BGB darstellt, die zur Anfechtung der Annahme der Erbschaft berechtigen kann (BGH NJW 1989, 2885; BayObLG NJW 2003, 216, 221 mwN).
Ein Anfechtungsgrund ist aber nur dann gegeben, wenn der Irrtum bezüglich der Überschuldung des Nachlasses auf falschen Vorstellungen hinsichtlich der Zusammensetzung des Nachlasses, hinsichtlich des Bestands an Aktiva oder Passiva beruht (vgl. BayObLG NJW 2003, 216, 221 mwN); dagegen können eventuelle Fehlvorstellungen über den Wert der zum Nachlass gehörenden Gegenstände die Anfechtung der Annahme oder Ausschlagung nicht begründen, wei...