GG Art. 20a; StVG § 17; StVO § 4 Abs. 1 S. 2; TierSchG § 18 Abs. 1 Nr. 5
Leitsatz
1. Das Bremsen für eine Taube unmittelbar nach dem Anfahren an einer Ampel erfolgt nicht ohne zwingenden Grund und stellt keinen Verstoß gegen § 4 Abs. 1 S. 2 StVO dar.
2. Allein weil es sich bei einer Taube um ein Kleintier handelt, kann nicht verlangt werden, das Tier zu überfahren.
3. Das Töten eines Wirbeltiers stellt nach §§ 4 Abs. 1, 18 Abs. 1 Nr. 5 TierSchG grds. eine Ordnungswidrigkeit dar. Art. 20a GG ist bei der Anwendung der Vorschriften der StVO zu berücksichtigen.
4. Der Auffahrende hat allein für den Schaden aufzukommen.
AG Dortmund, Urt. v. 10.7.2018 – 425 C 2383/18
Sachverhalt
Die Kl. macht die Verurteilung der Bekl. wegen eines Auffahrunfalls geltend.
Der Fahrer des Fahrzeugs der Kl. Wartete mit dem Fahrzeug vor einer rotlichtanzeigenden Ampel. Vor ihm stand der Bekl. zu 2) mit seinem Fahrzeug. Als die Ampel auf Grün umschaltete, fuhren beide Fahrzeuge an. Nach wenigen Metern bremste der Bekl. zu 2) aus zwischen den Parteien streitigen Gründen. T fuhr mit dem Fahrzeug der Kl. auf, an dem ein wirtschaftlicher Totalschaden entstand. Die Kl. hat behauptet, vor dem Fahrzeug des Bekl. habe eine Taube die Straße überquert. Das habe den Fahrer des Fahrzeugs der Kl., nicht aber den Bekl. berechtigt, wegen der Taube abzubremsen.
Die Bekl. haben die Auffassung vertreten, T sei berechtigt gewesen abzubremsen. Im Übrigen habe der Fahrer des Fahrzeugs eine überhöhte Geschwindigkeit eingehalten und den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht beachtet.
Das AG hat die auf Ersatz von 80 % der Unfallschäden gerichtete Klage abgewiesen.
2 Aus den Gründen:
"… Die Kl. hat gegen die Bekl. gem. § 7, 17 StVG, § 115 VVG kein Anspruch auf Ersatz ihres Schadens in Höhe von insgesamt 2.391,95 EUR."
Der Verkehrsunfall beruht bezüglich beider Fahrzeuge weder auf höherer Gewalt i.S.d. § 7 Abs. 2 StVG noch lag ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG vor.
In welchem Umfang die Bekl. der Kl. zum Schadensersatz verpflichtet sind, hängt somit von den Umständen ab, insb. davon, inwieweit der Schaden vorwiegend von der einen oder der anderen Partei verursacht worden ist § 17 Abs. 1StVG. Dabei ist jede Partei für Umstände, die die Betriebsgefahr des Fahrzeugs der anderen Partei erhöhen können, beweispflichtig.
II. Insofern gilt Folgendes:
1. Es spricht bereits der Beweis des ersten Anscheins für eine schuldhafte Unfallverursachung durch den Fahrer des Fahrzeugs der Kl. Dieser Beweis des ersten Anscheins setzt einen typischen Geschehnisablauf voraus, der nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache hinweist. Ein solch typischer Geschehnisablauf ist im Straßenverkehr, das Auffahren auf ein anderes Fahrzeug. Hier spricht die Lebenserfahrung dafür, dass der Kraftfahrer der auf ein vor ihm fahrendes oder stehendes Fahrzeug auffährt, entweder zu schnell, mit unzureichendem Sicherheitsabstand oder unaufmerksam gefahren ist (BGHZ 192, 84). Nach § 4 Abs. 1 S. 1 StVO muss ein solcher Abstand eingehalten werden, dass hinter diesem angehalten werden kann, wenn plötzlich gebremst wird.
Dieser Beweis des ersten Anscheins kann jedoch erschüttert bzw. ausgeräumt werden, wenn der Auffahrende einen anderen ernsthaften, typischen Geschehnisablauf darlegt und beweist. Dabei genügt die bloße Darlegung anderer oder theoretischer Möglichkeiten zur Erschütterung des Anscheinsbeweises nicht. Eine solche Entkräftung des Anscheinsbeweises hätte zur Folge, dass der Bekl. die von ihm bekundete Unfalldarstellung wieder in vollem Umfang beweisen muss.
Die Bekl. haben den gegen sie sprechenden Beweis des ersten Anscheins nicht entkräftet.
Bereits nach eigenem Sachvortrag der Kl. ist der Anscheinsbeweis nicht entkräftet. Der Anscheinsbeweis wäre nicht dadurch erschüttert, dass der Bekl. zu 2) für eine Taube stark gebremst hat.
Das Bremsen für eine Taube war nicht ohne zwingenden Grund und stellt in dieser konkreten Situation keinen Verstoß gegen § 4 Abs. 1, S. 2 StVOdar. Der Zweck des § 4 Abs. 1, S. 2 StVO ist das Verhindern von Auffahrunfällen. Der Grund des Bremsens ist vorliegend dem Zweck des Bremsverbots mindestens gleichwertig.
Eine Abwägung der gefährdeten Rechtsgütern ergibt, dass in dem hier zu entscheidenden Fall der Bekl. zu 2) bremsen durfte. Die damit einhergehende Gefahr von Sachschäden an dem eigenen wie an dem fremden Kfz hat keinen Vorrang vor dem Tierwohl. Vielmehr ist hier zu beachten, dass der Unfall bei sehr geringer Geschwindigkeiten im Anfahrvorgang geschah. Aufgrund der geringen Geschwindigkeit waren auch keine Personenschäden zu erwarten. Es mag sein, dass der Fahrer des Fahrzeugs der Kl. beim Anfahren an einer Kreuzung eine große Anzahl an möglichen Gefahren beachten muss. Gerade deshalb hat er jedoch den nötigen Sicherheitsabstand zum vorausfahrenden Fahrzeug herzustellen und einzuhalten sowie stets bremsbereit zu sein. Besonders im Stadtgebiet muss man stets damit rechnen, dass sich Gegenstände, die für den Hinterherfahrenden nicht oder nicht gut sichtbar sind, auf der Fahrbahn befinden.
Allein...