1) Kaum ein Verkehrsvorgang zwingt die rechtliche Bewältigung dazu, die Möglichkeiten und Grenzen des Anscheinsbeweises so zu berücksichtigen wie der Auffahrunfall. Die Rechtsprechung zu Auffahrunfällen hat für Bundesautobahnen als "Tatort" auf der Grundlage des Anscheinsbeweises aufgebaut, zum anderen sich mit der auf Autobahnen verbreiteten Sondersituation des geklärten oder ungeklärten Spurwechsels befasst. Der für typische Auffahrunfälle entwickelte Grundsatz, dass ein Beweis des ersten Anscheins für Ursächlichkeit und Verschulden an dem Unfall des Auffahrenden spricht, wurde für den Fall des nicht erwiesenen vorausgegangenen Spurwechsels zurückgenommen: Ein Anscheinsbeweis bestehe bei dieser Konstellation nicht (vgl. BGH zfs 2017, 258).
2) Ausgangspunkt für das Vorliegen eines gegen den Auffahrenden sprechenden Beweises des ersten Anscheins ist, dass er in unfallursächlicher Weise entweder den notwendigen Sicherheitsabstand gem. § 4 Abs. 1 S. 1 StVO nicht eingehalten, die der Verkehrssituation entsprechende Geschwindigkeit überschritten hatte (§ 3 Abs. 1 S. 1 StVO) oder unaufmerksam gewesen ist (§ 1 Abs. 2 StVO). All diese Verhaltensvorschriften bezwecken die Verhinderung von Unfällen, blenden allerdings das etwaige mitursächliche Verhalten des Unfallgegners aus. Das macht die in der mitgeteilten Entscheidung beurteilte Konstellation deutlich: Bremste der Vorausfahrende sein Fahrzeug ab, kann ein atypischer Verlauf gegeben sein, der der Annahme eines Beweises des ersten Anscheins entgegenstehen könnte. Das Verhalten des Vorausfahrenden ist in die Untersuchung mit einzubeziehen, da bei der Prüfung des Vorliegens eines Anscheinsbeweises nicht auf das Kerngeschehen allein, die Kollision beider Fahrzeuge, abgestellt werden darf, sondern eine Gesamtschau des Geschehensablaufes, einschließlich der "Vorgeschichte" stattzufinden hat (vgl. BGH VersR 1996, 772; BGH VersR 2012, 248 Rn 7; BGH zfs 2017, 258; von Pentz zfs 2012, 64, 68, Lepa NZV 1992, 129, 130. Dass der dem Auffahrunfall vorausgehende Fahrspurwechsel auf der Autobahn oder der Auffahrunfall nach einem Bremsen wegen einer beabsichtigten Disziplinierung des Hinterherfahrenden anders zu beurteilen ist als ein Auffahrunfall im normalen gleichgerichteten Verkehr, liegt auf der Hand (vgl. OLG Köln VersR 1982, 558; OLG Celle VersR 1973, 280).
3) Lag die Besonderheit des Auffahrunfalls darin, dass ein Bremsen des Vorausfahrenden wenigstens mitursächlich für den Unfall gewesen ist, reicht das für sich gesehen aus den von dem Senat angeführten Gründen nicht zu einer Erschütterung des Anscheinsbeweises aus (Rn 22). Damit wurde schon wegen der Häufigkeit von Bremsmanövern und folgendem Auffahren kein atypischer Verkehrsvorgang eingeleitet. Problematisch ist allein, ob ein grundloses starkes Bremsen und ein darauf mitursächlich beruhender Auffahrunfall geeignet sind, die Annahme einer Erschütterung des Anscheinsbeweises zu begründen.
Die in der Entscheidung vorgestellten unterschiedlichen Auffassungen, ob ein Auffahrunfall nach einem grundlosen starken Bremsen die Heranziehung eines gegen den Auffahrenden sprechenden Anscheinsbeweis erlaubt oder nicht (Rn 24–32), konnte der Senat erwartungsgemäß offen lassen. Hauptfunktion des Anscheinsbeweises ist der Beweis des Verschuldens des Auffahrenden. Diese Beweiswirkung gestaltet die rechtliche Einordnung des Verhaltens der Unfallbeteiligten um, da sie aufgrund des Eingreifens der Beweisregel auf die materiell-rechtliche Ebene gelangt (vgl. Greger/Zwickel, Haftung beim Verkehrsunfall, 5. Aufl., § 38 Rn 29).
RiOLG a.D. Heinz Diehl
zfs 2/2019, S. 77 - 81