I. Regeln zur Anwendung
Die Anwendung von Vorschriften des pandemiespezifischen Bußgeldrechts wird durch zwei Faktoren erheblich erschwert. Zum einen lag die Rechtssetzung jedenfalls bis zur sog. "Bundes-Notbremse" in § 28b IfSG i.d.F. vom 22.4.2021 weitgehend in den Händen der 16 Bundesländer sowie der örtlichen Ordnungsbehörden. Zum anderen sind die Corona-Schutzverordnungen der Länder seit März 2020 vielfach und oftmals kurzfristig geändert worden (zum "Zeitgesetz" u. II 3). Bei der Anwendung von Gerichtsentscheidungen zum materiellen Recht ist daher immer die jeweilige örtliche und zeitliche Rechtslage zu berücksichtigen. Deshalb ist insofern eine besondere Vorsicht angezeigt.
II. Einschlägige Tatbestände und deren Wirksamkeit
1. Einschlägige Tatbestände
Vorrangig von praktischer Bedeutung für pandemiespezifische Ordnungswidrigkeiten ist die Bußgeldnorm des § 73 Abs. 1a Nr. 24 IfSG i.V.m. mit den landesrechtlichen Corona-Schutzverordnungen, soweit die Rechtsverordnung für einen bestimmten Tatbestand auf diese Bußgeldvorschrift verweist. Seit Inkrafttreten der "Bundesnotbremse" am 23.4.2021 sind auch die neuen Bußgeldtatbestände in § 73 Abs. 1a Nrn. 11b bis 11m einschlägig.
2. Wirksamkeit der Normen
a) Tatgerichte
In Anbetracht der massiven Einschränkungen der Grundrechte durch besagte Schutzvorschriften haben mehrere Amtsgerichte einige Vorschriften, die als Grundlage für die Bußgeldahndung dienen oder die Bußgeldtatbestände als solche für verfassungswidrig und damit unbestimmt erachtet. So hat etwa das AG Dortmund die Einschränkung der Versammlungsfreiheit in § 12 CoronaSchutzVO NW i.d.F. ab 30.3.2020 für verfassungswidrig gehalten. Ebenso haben das AG Weimar das allgemeine Kontaktverbot bzw. das Ansammlungsverbot in Thüringen, das AG Ludwigsburg das Ansammlungsverbot in Baden-Württemberg, das AG Reutlingen zum Aufenthaltsverbot im öffentlichen Raum in Baden-Württemberg und das AG Straubing die Ausgangsbeschränkung in Bayern als unwirksam erachtet. Das AG Wuppertal hat bei einem Verstoß gegen das Ansammlungsverbot dem BVerfG die Frage vorgelegt, ob § 32 S. 1 IfSG (in der vor dem 23.4.2021 geltenden Fassung) i.V.m. § 28 Abs. 1 S. 1 und 2 IfSG, § 28a Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2, 3, 5 und 6 IfSG (in der vor dem 31.3.2021 geltenden Fassung) mit Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG vereinbar ist.
b) Rechtsprechung der OLG
(1) Herrschende Ansicht
Bei den Obergerichten hat sich diese Linie indessen nicht durchgesetzt. Die Oberlandesgerichte haben die Bußgeldandrohungen auf der Grundlage der Schutzvorschriften in den Corona-Schutz-Verordnungen nahezu durchgehend für verfassungsgemäß und wirksam erklärt:
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OLG Stuttgart (4. Senat) und OLG Karlsruhe : Das IfSG ermächtigte im März 2020 in verfassungsrechtlich zulässiger Weise die Landesregierung Baden-Württemberg, den Aufenthalt im öffentlichen Raum angesichts der Corona-Pandemie zu beschränken und Verstöße als Ordnungswidrigkeit auszugestalten. |
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OLG Oldenburg : Das Ansammlungsverbot gemäß § 2 Abs. 3 Satz 2 der Nds. Verordnung über die Beschränkung sozialer Kontakte zur Eindämmung der Corona Pandemie vom 7.4.2020 ist von der Rechtsgrundlage des IfSG gedeckt. |
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OLG Hamm : Das "Ansammlungsverbot" gemäß § 12 Abs. 1 CoronaSchVO NRW (i.d.F. vom 30.3.2020 bzw. 27.4.2020) findet in § 32 i.V.m. § 28 Abs. 1 S. 1 und 2 IfSG eine hinreichende gesetzliche Grundlage. Die Verordnungsermächtigung der §§ 32, 28 Abs. 1 IfSG und § 12 Abs. 1 CoronaSchVO NRW in seiner konkreten Ausgestaltung verstößt nicht gegen höherrangiges Recht. |
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OLG Karlsruhe : Das IfSG enthält mit den in §§ 28, 32, 73 Abs. 1a Nr. 24 getroffenen Regelungen eine ausreichende Ermächtigung für die in § 3 Abs. 1 Nr. 1 Corona-VO BW angeordnete Beschränkung (Pflicht zum Tragen einer nicht-medizinischen Alltagsmaske oder vergleichbaren Mund-Nasen-Bedeckung bei Nutzung des öffentlichen und des touristischen Personenverkehrs) und deren Bußgeldbewehrung in § 19 Nr. 2 Corona-VO i.d.F. vom 22.9.2020. |
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KG : Aus dem Wortlaut des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG folgt, dass der Begriff der "Schutzmaßnahmen" umfassend ist und der Infektionsschutzbehörde ein möglichst breites Spektrum an geeigneten Schutzmaßnahmen eröffnet, welches durch die Notwendigkeit der Maßnahme im Einzelfall begrenzt wird.Staatliche Regelungen, die auch den vermutlich gesünderen und weniger gefährdeten Menschen in gewissem Umfang Freiheitsbeschränkungen abverlangen, sind zulässig, wenn gerade hierdurch auch den stärker gefährdeten Menschen, die sich ansonsten über längere Zeit vollständig aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückziehen müssten, ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Teilhabe und Freiheit gesichert werden kann. Bei der gegebenen Gefährdungslage mit erheblichen prognostischen Unsicherheiten, die auch eine katastrophale Überlastung ... |