StVG § 7 § 18; StVO § 9 Abs. 5, 10 S. 1; VVG § 115
Leitsatz
Bei einer Kollision eines auf der Fahrbahn rückwärts fahrenden Lkw mit einem aus einer Grundstücksausfahrt ausfahrenden Pkw ist zu Lasten von Halter/Fahrer des Lkw von einer Haftungsquote von ¾, zu Lasten von Fahrer und Halter des Pkw von ¼ auszugehen.
(Leitsatz der Schriftleitung)
AG Helmstedt, Urt. v. 23.5.2011 – 3 C 67/11
Sachverhalt
Nachdem sich der Bekl. zu 2) als Fahrer eines Lkw des Bekl. zu 1), der bei der Bekl. zu 3) haftpflichtversichert ist, verfahren hatte, hielt er an und stieß auf der Fahrbahn für andere Verkehrsteilnehmer plötzlich und unerwartet zurück. Dabei stieß er mit dem aus einem Grundstück ausfahrenden Pkw des Kl. zusammen. Zur Haftungsabwägung führte das AG aus:
2 Aus den Gründen:
“In ihrem Verhältnis zueinander hängt die Verpflichtung zum Schadensersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes gem. § 17 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 StVG von den Umständen, insb. davon ab, inwieweit die Schäden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden sind. Hierbei richtet sich die Schadensverteilung auch nach dem Grad eines etwaigen Verschuldens eines Beteiligten.
Die Anwendung dieser Grundsätze auf den Entscheidungsfall führt zu einer Haftungsverteilung von ¼ zu Lasten des Kl. und ¾ zu Lasten der Bekl.. Das überwiegende unfallursächliche Verschulden trifft nämlich den Zweitbeklagten. Diesem fällt zum einen ein schuldhafter Verstoß gegen § 9 Abs. 5 StVO zur Last. Nach § 9 Abs. 5 StVO hat sich der Fahrzeugführer beim Rückwärtsfahren so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Bei einer Kollision während des Zurücksetzens spricht bereits der Anschein für ein Verschulden des Rückwärtsfahrenden (vgl. König, in: Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 39. Aufl., § 9 StVO Rn 55). Zusätzlich zu diesem Verschulden des Zweitbeklagten ist auch die erhöhte Betriebsgefahr des von ihm gelenkten LKW's zu veranschlagen.
Im Vergleich dazu fällt das Verschulden des Kl. wegen Verstoßes gegen § 10 S. 1 StVO erheblich weniger ins Gewicht, zumal – was unstreitig ist – der Zweitbeklagte “plötzlich und unerwartet’ zurücksetzte. Von einer Vorfahrtsmissachtung des Kl. kann im zu entscheidenden Fall nach Meinung des Gerichts keine Rede sein. Wer rückwärts fährt, hat nämlich keine Vorfahrt, sondern hat sich nach § 9 Abs. 5 StVO so zu verhalten, dass jede Gefährdung anderer ausgeschlossen ist.
Bei der Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge bewertet das Gericht deshalb diejenigen des Kl. mit 25 Prozent und die des Zweitbeklagten mit 75 Prozent. Die Bekl. haften dementsprechend dem Kl. auf Ersatz von ¾ seines ersatzfähigen Schadens.“
Mitgeteilt von Rechtsanwalt Dieter Simon, Helmstedt
3 Anmerkung:
Das Unfallereignis machte eine Haftungsabwägung erforderlich, wobei beide Verkehrsteilnehmer den höchsten Sorgfaltsgrad der StVO zu beachten hatten. Der rückwärts fahrende Fahrer des Lkw hatte nach § 9 Abs. 5 StVO sich so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen war. Diese Einordnung des Rückwärtsfahrens als gefährlicher Verkehrsvorgang beruht auf der Erwägung, dass Rückwärtsfahren mit einem Kfz deshalb gefährlich ist, weil die Sichtmöglichkeiten des Kfz beim Rückwärtsfahren eingeschränkt sind (vgl. BayObLG VkBl 58, 386; OLG Schleswig VM 56, 42). Dabei muss der Rückwärtsfahrende nicht nur darauf achten, dass der Gefahrraum hinter dem Kfz frei ist, sondern auch darauf, dass er von den Seiten her frei bleibt (vgl. OLG Oldenburg VRS 100, 432; OLG Düsseldorf VRS 87, 47; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl., § 9 StVO Rn 51). Auch der aus der Gründstücksausfahrt Einfahrende muss dabei den höchstmöglichen Grad an Sorgfalt, den die StVO kennt, einhalten. Nach § 10 S. 1 StVO hatte er sich so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Wurde damit von beiden Verkehrsteilnehmern ein Höchstmaß an Sorgfalt verlangt (vgl. hierzu BGH VRS 69, 353; OLG Hamm VRS 38, 222, 223; OLG Düsseldorf VRS 60, 420; OLG Karlsruhe VersR 1975, 1033, 1034; OLG Celle DAR 91, 180) sieht sich die Haftungsabwägung – zunächst – vor einer Pattsituation. Für die überwiegende Haftung des Rückwärtsfahrenden spricht es, dass er nach den Feststellungen des AG "plötzlich und unerwartet" zurückgesetzt hatte und damit dem ausfahrenden Unfallgegner es nicht möglich machte, sich auf diese neue gefahrträchtige Situation einzustellen. Dass der aus der Grundstücksausfahrt Ausfahrende damit rechnen musste, dass ein auf der Fahrbahn rückwärts fahrendes Fahrzeug sich näherte und seine Fahrspur schnitt (vgl. OLG Köln NZV 1994, 321), trifft zwar zu, setzte allerdings die hier nicht festgestellte Möglichkeit voraus, dass dies dem Ausfahrenden rechtzeitig erkennbar war, damit er den Ausfahrvorgang abbrechen konnte.
RiOLG a.D. Heinz Diehl, Neu-Isenburg