Dass sich die Maßstäbe für die Beurteilung des Verhaltens von Verkehrsteilnehmern im Laufe der Zeit ändern können, ist bekannt. Mitunter wird aber auch bei verschiedenen Verkehrsteilnehmern – z.B. bei Kraftfahrzeugführern einerseits und nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern andererseits – mit zweierlei Maß gemessen. Ein schönes Beispiel dafür liefert ein kürzlich veröffentlichtes Urteil des Oberlandesgerichts Oldenburg. Das OLG Oldenburg hatte zu entscheiden, ob der zu § 316 StGB für Kraftfahrer entwickelte Grenzwert für die Annahme absoluter Fahruntüchtigkeit auch für den Kutscher einer Pferdekutsche gilt. Ich möchte auf den Fall kurz eingehen, obwohl der Begriff der absoluten Fahruntüchtigkeit haftungsrechtlich keine Rolle spielt, denn es handelt sich dabei ja um eine lediglich abstrakte Gefahrerhöhung. Diese kann im Rahmen der Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge nur von Bedeutung sein, wenn sie sich bei dem Unfall tatsächlich ausgewirkt hat. Die Entwicklung der Rechtsprechung zur absoluten Fahruntüchtigkeit macht aber deutlich, dass für das Verhalten im Straßenverkehr durchaus unterschiedliche Maßstäbe gelten können. Ferner wird deutlich, wie sich die Beurteilung derselben Verhaltensweise im Laufe der Zeit sowohl aufgrund neuer Erkenntnisse als auch im Hinblick auf das immer weiter steigende Verkehrsaufkommen ändern kann.
Für Kraftfahrer liegt der Grenzwert, von dem an absolute Fahruntüchtigkeit anzunehmen ist, heute bekanntlich bei 1,1 ‰. Das war nicht immer so. Im Jahr 1953 hatte der Bundesgerichtshof die Grenze für die Annahme absoluter Fahruntüchtigkeit zunächst bei 1,5 ‰ angesetzt. Dreizehn Jahre später, also 1966, wurde der Grenzwert zunächst auf 1,3 ‰ herabgesetzt. Dieser Wert hatte immerhin 24 Jahre Bestand, bis der Bundesgerichtshof die Grenze der absoluten Fahruntüchtigkeit im Jahr 1990 schließlich auf den heute noch geltenden Wert von 1,1 ‰ herabsetzte. Seitdem sind immerhin schon wieder 24 Jahre vergangen. Dass wir deshalb bald wieder mit einer weiteren Herabsetzung des Grenzwerts rechnen müssen, scheint nicht ausgeschlossen.
Auch hinsichtlich der Fahruntüchtigkeit anderer Verkehrsteilnehmer hat sich die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs immer wieder geändert. Während der Bundesgerichtshof noch im Jahr 1974 der Auffassung war, dass sich für den Fahrer eines führerscheinfreien Fahrrads mit Hilfsmotor (sogenanntes Mofa 25) ein allgemeiner Grenzwert der alkoholbedingten absoluten Fahruntüchtigkeit nicht bestimmen lasse, hielt er daran schon sieben Jahre später nicht mehr fest. 1981 kam er nämlich zu der besseren Erkenntnis, dass auch ein Mofafahrer mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,3 ‰ absolut fahruntüchtig sei. Nach der im Jahr 1990 ergangenen Entscheidung zum Grenzwert von 1,1 ‰ gilt dieser Wert nunmehr einheitlich für alle Führer von Kraftfahrzeugen und damit auch für Mofafahrer. Eine ähnliche Entwicklung gibt es auch für Radfahrer. Während der Bundesgerichtshof im Jahr 1963 zunächst einen festen Grenzwert für die Annahme alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit ablehnte, bestimmte er im Jahr 1986 für Radfahrer einen Grenzwert von 1,7 ‰. In diesem Wert ist ein Sicherheitszuschlag von 0,2 ‰ enthalten. Da sich die Messverfahren seitdem verbessert haben und immer genauer geworden sind, wird ein Sicherheitszuschlag in diesem Umfang für nicht mehr gerechtfertigt gehalten. Ob er deswegen auf 0,1 ‰ zu reduzieren ist oder aber ganz zu entfallen hat, ist streitig.
Ob der für Führer von Kraftfahrzeugen geltende Grenzwert auch für Führer anderer motorgetriebener Fahrzeuge wie etwa Bagger oder elektrische Krankenfahrstühle gilt, ist streitig und weitgehend ungeklärt. Offen ist auch, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen E-Bikes als Kraftfahrzeuge einzustufen sind. Ebenso ungeklärt ist, ob der für Radfahrer geltende höhere Grenzwert etwa für Inlineskater oder Skateboarder herangezogen werden kann.
Für Fußgänger gibt es bis heute jedenfalls keinen allgemein anerkannten Grenzwert für die Annahme alkoholbedingter Verkehrsuntüchtigkeit. Das OLG Stuttgart hatte im Jahr 1963 zwar versucht, einen solchen Grenzwert festzulegen. Seine Entscheidung konnte jedoch nicht überzeugen. So war das OLG Stuttgart erstaunlicherweise der Auffassung, dass der Wert von der Tageszeit abhängig sei. Er liege bei Tage zwischen 2,0 und 2,5 ‰ und bei Nacht zwischen 1,7 und 2,0 ‰. Ein Blutalkoholgehalt von 1,4 ‰ bewege sich in Grenzen, denen ein gesunder Mann normalerweise gewachsen sei. Heute wird bei Fußgängern eine Verkehrsuntüchtigkeit oft bei einer Blutalkoholkonzentration von 2,0 ‰ und mehr angenommen. Es gibt aber keinen Grenzwert für die Annahme einer absoluten Verkehrsuntüchtigkeit. Für die Haftung ist jedoch allein die relative Verkehrsuntüchtigkeit maßgebend. Dafür müssen neben der Blutalkoholkonzentration weitere Indizien vorliegen, die auf ein alkoholbedingtes Fehlverhalten schließen lassen. Ein Fehlverhalte...