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Der Aufsatz basiert auf einem Vortrag, gehalten bei den 34. "Homburger Tagen" am 18.10.2014. Die Vortragsform wurde beibehalten.
A. Einleitung
Es geschieht nicht selten, dass ein Kraftfahrer mit seinem Pkw auf einer geraden Straße ohne erkennbaren Grund von der Straße abkommt und verunglückt. Für ein solches Unfallgeschehen können die Grundsätze des Anscheinsbeweises zum Tragen kommen, wonach bei einem typischen Geschehensablauf von einem Verschulden des Fahrers auszugehen sein kann. Nach ständiger Rechtsprechung entspricht es der allgemeinen Lebenserfahrung, dass einem Kraftfahrer, der mit dem von ihm geführten Kraftfahrzeug von einer geraden und übersichtlichen Fahrbahn abkommt, ein bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt vermeidbarer Fahrfehler zur Last fällt. Den gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweis kann der Kraftfahrer erschüttern, indem er einen atypischen Verlauf oder jedenfalls die ernsthafte Möglichkeit eines solchen atypischen Verlaufs beweist. Ich möchte die Frage aufwerfen, ob in einem vergleichbaren Fall auch einem Fußgänger oder einem Radfahrer etwa bei einem Abkommen vom Weg oder bei einem Sturz nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises ein Verschulden anzulasten wäre. Gelten für Kraftfahrer einerseits und für Fußgänger und Radfahrer andererseits im Straßenverkehr dieselben Regeln und dieselben Maßstäbe? Oder gibt es signifikante Unterschiede? Und wenn ja: Sind diese gerechtfertigt? Diesen Fragen, die für die Regulierungspraxis durchaus von Bedeutung sind, möchte ich im Folgenden nachgehen.
B. Unfallhäufigkeit
Nach einer vom ADAC veröffentlichten Studie waren im Jahr 2012 immerhin 8,2 % der im Straßenverkehr Verunglückten Fußgänger; von den bei Verkehrsunfällen getöteten Personen betrug der Anteil der Fußgänger sogar 14,4 %. Dabei steigt das Risiko, tödlich zu verunglücken, mit zunehmendem Alter deutlich an. So waren im Jahr 2012 mehr als die Hälfte der tödlich verunglückten Fußgänger, nämlich 52,5 %, über 65 Jahre alt. Als positiv ist immerhin festzuhalten, dass sich die Zahl der bei Verkehrsunfällen verunglückten Fußgänger seit 1979 mit einem Rückgang um 53 % mehr als halbiert hat. Bei den tödlich Verunglückten war der Rückgang noch größer. Bis 2012 verringerte sich die Zahl der Getöteten auf 13,6 % des Wertes von 1979.
Bei den Radfahrern sieht es etwas anders aus. Nach einer Studie des ACE aus dem Jahr 2010 steigt der Anteil der Radfahrer von Jahr zu Jahr erheblich an. In jedem deutschen Haushalt waren zum Zeitpunkt der Erhebung im statistischen Schnitt 1,5 Fahrräder in Gebrauch. Innerhalb der letzten zwölf Jahre hatte die Zahl der mit dem Fahrrad Verunglückten um nahezu 12 % zugenommen. Knapp 14 % aller im Straßenverkehr verletzten Personen kamen auf einem Fahrrad zu Schaden. Erschreckend hoch ist der Anteil von Kindern an schweren Radunglücken. Jeder dritte Junge unter 15 Jahren, der bei einem Verkehrsunfall starb, war ein Radfahrer. Die meisten Verletzten waren zwischen 45 und 55 Jahre alt. Jeder zweite im Jahr 2009 auf dem Fahrrad tödlich Verunglückte war über 65 Jahre alt. Diese Zahlen machen deutlich, dass Unfälle von Fußgängern und Radfahrern einen erheblichen Anteil an der Gesamtheit der Verkehrsunfälle haben. Es verwundert daher nicht, dass immer wieder Diskussionen entflammen, die sich mit der Frage beschäftigen, wie die Sicherheit von Fußgängern und Radfahrern effektiv verbessert werden kann.
C. Unfälle mit Fußgängern
Nach der bereits erwähnten Statistik des ACE waren von den im Jahr 2010 im Straßenverkehr zu Schaden gekommenen Fußgängern 58,8 % schuldlos in Unfälle verwickelt. Bei immerhin 41,2 % wurde jedoch das Verhalten der Fußgänger als unfallursächlich angesehen. Das wirft die Frage auf, wie sich Fußgänger selbst besser vor Unfällen schützen können. Sind Fußgänger etwa zu leichtsinnig oder aber zu oft unaufmerksam? Welche Sorgfalt kann überhaupt von ihnen verlangt werden?
I. Allgemeine Sorgfalt
Fußgänger verunglücken nicht nur im Straßenverkehr. Es gibt Entscheidungen von Oberlandesgerichten, nämlich vom OLG Köln und vom OLG Düsseldorf, in denen es heißt, es existiere ein Erfahrungssatz, dass derjenige, der etwa beim Herabsteigen auf einer normalen Treppe, die keine Besonderheiten aufweist, stolpert und hinfällt, die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nicht beachtet habe, weil er entweder seinen Schritten nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt oder sich bei einem Stolpern nicht hinreichend am Treppengeländer festgehalten habe. Wenn ein Fußgänger ohne erkennbaren Grund stolpert, soll dies nach Auffassung des Landgerichts Mühlhausen darauf schließen lassen, dass er...