" … Die zulässige Berufung des Kl. ist überwiegend begründet."

1. Zu Recht und von der Berufung nicht angegriffen ist das Erstgericht allerdings zunächst davon ausgegangen, dass sowohl die Bekl. als auch der Kl. grds. für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gem. §§ 7, 17 Abs. 1, 2 StVG i.V.m. § 115 VVG einzustehen haben, weil die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kfz entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und für keinen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG darstellte.

2. Zutreffend hat der Erstrichter auch ein Verschulden des Kl. am Zustandekommen des Unfalls festgestellt.

a) Dem Kl. kann indes weder ein Verstoß gegen die Pflichten beim Anfahren vom Fahrbahnrand (§ 10 StVO) noch gegen die Pflichten beim Wechsel eines Fahrstreifens (§ 7 Abs. 5 StVO) vorgehalten werden.

aa) Nach den unstreitigen Feststellungen des Erstrichters, wie sie sich aus dem Urteilstatbestand ergeben (§ 314 ZPO), ist davon auszugehen, dass der Kl. seinen Pkw angehalten hat, um den Gegenverkehr passieren zu lassen. Damit war der Kl. aber noch Teil des fließenden Verkehrs und hatte mithin nicht die besonderen Pflichten des § 10 StVO zu beachten (vgl. hierzu Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 42. Aufl., § 10 StVO Rn 7; Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 22. Aufl., § 10 StVO Rn 12, jeweils m.w.N.).

bb) Auch ein Verstoß gegen die Pflichten beim Wechsel eines Fahrstreifens (§ 7 Abs. 5 StVO) liegt nicht vor. Nach § 7 Abs. 1 S. 2 StVO handelt es sich bei einem Fahrstreifen um den Teil einer Fahrbahn, den ein mehrspuriges Fahrzeug zum ungehinderten Fahren im Verlauf der Fahrbahn benötigt. Dies zugrunde gelegt hat der Kl. hier keinen Fahrstreifenwechsel durchgeführt. Denn es kann schon nicht davon ausgegangen werden, dass an der Unfallstelle mehrere Fahrstreifen für den gleichgerichteten Verkehr zur Verfügung standen (vgl. hierzu OLG Hamm OLG-Report 2005, 262; OLG Brandenburg NJW 2009, 2962; Geigel/Zieres, a.a.O. Kap. 27 Rn 207, 216).

b) Der Kl. hat jedoch gegen die Pflichten beim Vorbeifahren verstoßen. Muss ein Fahrzeugführer – wie hier – zum Vorbeifahren an einem rechts parkenden Fahrzeug ausscheren, treffen ihn die Pflichten aus § 6 S. 2 StVO (vgl. hierzu OLG Hamm OLG-Report 2005, 262; Hentschel, a.a.O. § 6 StVO Rn 4; Geigel/Zieres, Der Haftpflichtprozess, 26. Aufl., Kap. 27, Rn 197). Der Kl. hatte mithin auf den nachfolgenden Verkehr zu achten und das Ausscheren sowie das Wiedereinordnen – wie beim Überholen – anzukündigen. Dass der Kl. dem nicht nachgekommen ist, hat er in seiner informatorischen Anhörung vor dem Erstgericht selbst eingeräumt. Damit hat er auch den Unfall verursacht. Denn der Kl. hätte die Zweitbeklagte in der Annäherung erkennen, deren weiteres Fahrverhalten beobachten und damit unfallvermeidend reagieren können, wenn er den rückwärtigen Verkehr – wie geboten – hinreichend beobachtet hätte. Auf die Frage, ob im Rahmen des § 6 S. 2 StVO gegen den Vorbeifahrenden ein Anscheinsbeweis streitet, kommt es danach nicht an (vgl. hierzu AG Krefeld Schaden-Praxis 2010, 283; AG Bad-Segeberg NZV 2013, 496; Gutt, jurisPR-VerkR 13/2013 Anm. 4).

3. Aber auch die Zweitbeklagte trifft ein Sorgfaltsverstoß, da sie gegen ein Überholverbot verstoßen hat.

a) Anders als das AG meint, beurteilen sich die Pflichten der Zweitbeklagten nicht nach § 6 StVO (Vorbeifahren), sondern nach § 5 StVO (Überholen). Denn die Zweitbeklagte hat das klägerische Fahrzeug überholt. Ein Kraftfahrer, der – wie hier der Kl. – wartet, um an einer Engstelle den Gegenverkehr passieren zu lassen, hält lediglich mit Rücksicht auf die Verkehrslage. An ihm wird infolgedessen nicht “vorbei gefahren’, sondern er wird “überholt’ (vgl. BGHSt 26, 73, 75; OLG Köln OLG-Report 1999, 206; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl., § 5 StVO Rn 16; Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 21. Aufl., § 5 StVO Rn 2; Geigel/Zieres, Der Haftpflichtprozess, 26. Aufl., Kap. 27 Rn 159).

b) Für die Zweitbeklagte bestand in der vorliegenden Situation ein Überholverbot wegen unklarer Verkehrslage (§ 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO). Nach allgemein verbreiteter Meinung herrscht eine unklare Verkehrslage, wenn nach allen objektiven Umständen – nicht nach dem Gefühl des Überholwilligen – mit einem ungefährlichen Überholen nicht gerechnet werden darf. Unklar ist die Verkehrslage dann, wenn sich nicht verlässlich beurteilen lässt, was der Vorausfahrende sogleich tun wird (vgl. etwa Urt. der Kammer v. 13.11.2009 – 13 S 287/09; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 42. Aufl., § 5 StVO Rn 34, jew. m.w.N.). Dafür reicht es im Regelfall noch nicht aus, dass der Vorausfahrende langsamer wird oder anhält. Unklar wird die Verkehrslage erst, wenn weitere Umstände hinzutreten (vgl. Kammer, Urt. v. 1.7.2011 – 13 S 61/11, zfs 2012, 257; Hentschel, a.a.O. § 5 StVO Rn 34 f., jeweils m.w.N.). Solche Umstände liegen hier vor. Im Hinblick darauf, dass die Fahrbahn im Unfallzeitpunkt so eng...

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