Wer auffährt hat Schuld bzw. "wenn es hinten knallt, gibt es vorne Geld".
Fährt ein Fahrzeug auf ein davor fahrendes oder stehendes Fahrzeug auf, spricht der Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden.
Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein? Feststehen muss dafür, dass das Fahrzeug, auf welches aufgefahren wurde, zuvor gestanden oder sich in Vorwärtsrichtung bewegt haben muss. Ist streitig, ob das vordere Fahrzeug kollisionsverursachend rückwärts gefahren ist, ist der Anscheinsbeweis bereits nicht anzuwenden. Weiterhin muss feststehen, dass das davor fahrende Fahrzeug so lange vorweg gefahren ist, dass für den Nachfolgenden ausreichend Zeit verblieb, sich auf dieses Fahrzeug einzustellen.
Ist jedoch streitig und nicht aufklärbar, ob unmittelbar zuvor ein Fahrstreifenwechsel des Vorausfahrenden vorlag, so findet der Anscheinsbeweis keine Anwendung. Hierzu hat sich bereits das Kammergericht geäußert und entschieden:
"Der Beweis des ersten Anscheins gegen den Auffahrenden setzt voraus, dass beide Fahrzeuge unstreitig oder erwiesenermaßen so lange in einer Spur hintereinander gefahren sind, dass sich beide Fahrzeugführer auf die vorangegangenen Fahrbewegungen hätten einstellen können. Damit muss derjenige, der sich auf einen Anscheinsbeweis wegen eines Auffahrunfalles berufen möchte, nicht nur darlegen, dass das hinter ihm fahrende Fahrzeug auf ihn aufgefahren ist. Er muss zudem darlegen, dass er bereits so lange vor dem Hintermann her gefahren ist, dass dieser sich auf den davor Fahrenden einstellen konnte."
Dies muss noch nicht allein dann gegeben sein, wenn im Moment der Kollision beide Fahrzeuge längsachsenparallel gefahren sind. Darum spricht kein Erfahrungssatz allein anhand der Tatsache, dass mit einer großen Überdeckung das dahinter fahrende Fahrzeug auf das davor fahrende Fahrzeug aufgefahren ist, dafür, dass der Hintermann einen Fahrfehler begangen hat. Denn ein Fahrstreifenwechsel des Vordermanns im räumlichen und zeitlichen Zusammenhang kann nicht mit der notwendigen Sicherheit für die Annahme eines Anscheinsbeweises ausgeschlossen werden. Damit ist der Anscheinsbeweis bereits dann nicht anwendbar, wenn die ernsthafte Möglichkeit besteht, dass derjenige, auf den aufgefahren worden ist, zuvor einen Fahrstreifenwechsel vollführt hat.
Als fehlerhaft sehe ich die Entscheidung des Kammergerichts Berlin an, wonach es nicht zu der notwendigen Schilderung eines typischen Lebenssachverhalts durch den Vorausfahrenden für die Annahme eines Anscheinsbeweises gehört, dass die Fahrzeuge schon längere Zeit hintereinander her gefahren sind. Denn mit der Behauptung des Vorliegens eines Anscheinsbeweises ist das Berufen auf einen allgemeinen Erfahrungssatz verbunden. Insbesondere im innerstädtischen Verkehr entspricht das Auffahren eines Fahrzeugs auf ein anderes jedoch keinem typischen Geschehensablauf, aus dem allein geschlossen werden kann, dass der Nachfolgende zu schnell, unaufmerksam oder zu dicht aufgefahren ist. Denn ein Großteil vergleichbarer Auffahrunfälle beruht darauf, dass ein Fahrzeug z.B. in den Sicherheitsabstand in einem daneben liegenden Fahrstreifen hineingefahren ist. Sind also mehr als ein Fahrstreifen je Fahrtrichtung gegeben, so muss auch feststehen, dass der Auffahrende zuvor die Gelegenheit hatte, einen entsprechenden Sicherheitsabstand einzuhalten. Nur dann kann ein Erfahrungssatz dafür sprechen, dass der Auffahrende eben schuldhaft, z.B. unaufmerksam oder mit zu geringem Abstand, das Unfallereignis verursacht hat.
Steht jedoch fest, dass zwei Fahrzeuge bereits ausreichend lange hintereinander her gefahren sind, so spricht zu Lasten des Auffahrenden der Anscheinsbeweis, dass er entweder zu schnell, mit unzureichendem Sicherheitsabstand oder unaufmerksam gefahren ist. Dann kann der Auffahrende den gegen ihn sprechenden Beweis nur erschüttern oder ausräumen, wenn er Umstände darlegt und beweist, die die ernsthafte Möglichkeit eines anderen, atypischen Geschehensablaufs ergeben. Erschüttert ist dieser Anscheinsbeweis unter anderem dann, wenn der Auffahrende nachweist, dass der Vorausfahrende unter Verstoß gegen § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO ohne zwingenden Grund plötzlich stark gebremst hat.
Mit einem ruckartigen Stehenbleiben – etwa durch ein Abwürgen des Motors mit sofortigem Stillstand des Fahrzeugs – muss der Hintermann jedenfalls nicht ohne Weiteres rechnen. Er kann seinen Abstand so einrichten, dass er bei einer plötzlichen Gefahrenbremsung des Vordermanns anhalten kann. Mit einer weiteren Verkürzung des Bremsweges muss er nicht rechnen.