StA Koblenz sieht Anfangsverdacht für strafrechtliche Ermittlungen zu Hochwasserfolgen
Bei der Flutkatastrophe im Ahrtal mit mindestens 141 Todesopfern und 766 Verletzten stellt sich zunehmend die Frage, ob auch menschliches Versagen und politische Versäumnisse eine Rolle gespielt haben. Ist die Bevölkerung zu spät gewarnt worden? Hätte die Bevölkerung schneller evakuiert werden können und müssen?
StA sieht Anhaltspunkte für Anfangsverdacht fahrlässiger Straftaten durch Unterlassen
Laut Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Koblenz haben sich zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür ergeben, dass am 14. Juli ab etwa 20.30 Uhr Gefahrenwarnungen und möglicherweise auch Evakuierungen geboten gewesen wären.
„Die Staatsanwaltschaft hat aus den ihr zugänglichen Quellen versucht, die Ereignisse am 14./15.07.2021 vorläufig nachzuvollziehen. Auch wenn dies naturgemäß nicht vollständig möglich war, haben sich hieraus zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür ergeben, dass am 14.07.2021 spätestens ab etwa 20.30 Uhr Gefahrenwarnungen und möglicherweise auch die Evakuierung von Bewohnern des Ahrtals, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht von der Flutwelle betroffen waren, geboten gewesen wären.
Dies - so der Anfangsverdacht - dürfte in einer als fahrlässig vorwerfbaren Begehungsweise offenbar nicht, nicht in der gebotenen Deutlichkeit oder nur verspätet erfolgt sein. Der Anfangsverdacht erstreckt sich weiterhin darauf, dass ein entsprechendes Unterlassen jedenfalls für einen Teil der Todesfälle und der entstandenen Personenverletzungen (mit)ursächlich geworden ist.
Betroffen sind der Landrat als Leiter des Krisenstabs und ein Mitglied des Krisenstabs, das ihn zeitweise bei der Leitung des Stabs vertreten haben soll.
Strafrechtsrelevante Vorwürfe: Verspätete Warnungen und Evakuierungen
Einige Menschen hatten Strafanzeige gegen Unbekannt erstattet, da der Deutsche Wetterdienst schon früh vor extremem Hochwasser gewarnt und automatisierte Warn-Mails an die zuständigen Behörden versandt hatte. Die Frage steht im Raum, ob die an Bund, Länder und Landkreise versandten Warn-Mails von den Behörden hinreichend ernst genommen und umgesetzt wurden und aus welchem Grund die Warnungen zwar die Behörden, aber die betroffene Bevölkerung nicht rechtzeitig erreicht haben.
Weitere Diskussionspunkte sind: Hat es an Notfallplänen gefehlt; haben die in der Warnkette Verantwortlichen rechtzeitig gehandelt, kam die Evakuierung der Bevölkerung in den von den Hochwasserwarnungen besonders betroffenen Gebieten zu spät?
StA ermittelt nun wegen fahrlässigen Tötung und Körperverletzung
Die StA Koblenz prüfte zunächst im Rahmen einer Vorermittlung die „Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen des Anfangsverdachts der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Körperverletzung“ und möglicherweise der unterlassenen Hilfeleistung.
Um Hinweise zügig bearbeiten zu können, hatte die Staatsanwaltschaft darauf hingewiesen, diese per E-Mail an die Mail-Adresse "unwetter.stako@genstako.jm.rlp.de" zu verschicken. |
Nun wurde das Ermittlungsverfahrens wegen des Vorwurfs der fahrlässigen Tötung gemäß § 222 StGB, der fahrlässigen Körperverletzung gemäß § 229 StGB eingeleitet. Das setzte voraus, dass die StA zu dem Ergebnis kam, dass die ermittelten Vorgänge den Anfangsverdacht einer fahrlässigen Tötung oder fahrlässigen Körperverletzung soweit begründen, dass ein Ermittlungsverfahren gemäß § 152 Abs. 2 StPO eröffnet werden kann.
Für die Ermittlungen wurden jetzt Unterlagen des Krisenstabs des Landkreises Ahrweiler und die persönlichen Kommunikationsmittel der Beschuldigten sichergestellt.
Auch die Staatsanwaltschaften Köln, Bonn und Aachen prüfen, ob ein Anfangsverdacht für strafrechtliche Ermittlungen gegen in Betracht kommende Verantwortlichen besteht.
Staatsanwaltschaft betont ausdrücklich die Unschuldsvermutung
Die Staatsanwaltschaft weist in der Pressemitteilung eindrücklich darauf hin, dass derzeit lediglich ein Anfangsverdacht besteht, der naturgemäß auf einer mit Unsicherheiten und Lücken behafteten Erkenntnislage beruht.
Gerade deshalb und wegen der Dramatik der Ereignisse und der schrecklichen Folgen, die diese gehabt haben, betont die Staatsanwaltschaft die hinsichtlich der Beschuldigten bestehende Unschuldsvermutung in besonderer Weise.
Kriterium des Anfangsverdachts hat zweifache Schutzfunktion
Der Hürde des Anfangsverdachts für staatsanwaltschaftliche und polizeiliche Ermittlungen kommt nach dem Gesetz eine Schutzfunktion für die von polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen Betroffenen zu. Die Vorschrift schützt Betroffene vor Ermittlungen aufgrund bloßer, nicht durch Tatsachen belegter Vermutungen. Liegt ein solcher Anfangsverdacht vor, so besteht umgekehrt allerdings auch eine Pflicht der Staatsanwaltschaft zum Tätigwerden (Legalitätsprinzip).
StA ermittelte nach anfänglicher Zurückhaltung
In der vergangenen Woche hatte die für den Landkreis Ahrweiler zuständige StA Koblenz noch am 30. Juli offiziell mitgeteilt, keinerlei Veranlassung für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen für den Katastrophenschutz verantwortliche Personen zu sehen. Dies hat sich - möglicherweise auch infolge eingegangener Strafanzeigen - inzwischen geändert. Die StA hatte mitgeteilt, dass sie in die Vorermittlungen Presseberichte, Feststellungen aus Todesermittlungsverfahren und polizeiliche Hinweise einbezieht.
Wurde der Katastrophenfall zu spät ausgerufen?
Im Fokus der neuen Erkenntnisse steht dabei wohl die Warnung vor einem enormen Hochwasser, die der Landkreis Ahrweiler im Vorfeld der Katastrophe vom 15.7.2021 erhalten hatte. Trotz frühzeitiger Warnung hatte der Landkreis in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli erst gegen 23:00 Uhr den Katastrophenfall ausgerufen.
Erst die Ausrufung des Katastrophenfalls durch den Landkreis setzt die örtlichen Alarmketten in Gang und führt zur Mobilisierung der Rettungskräfte. Die Kernfrage, die sich stellt, ist nun, ob die Ausrufung des Katastrophenfalls zu spät erfolgte.
Hätte der Landkreis Ahrweiler früher handeln müssen?
Nach einem Bericht der FAZ hatte das Landesamt für Umwelt in mehreren E-Mails auch den später eingetretenen ungewöhnlich hohen Pegelstand der Ahr prognostiziert. Der Pegelstand der Ahr war am 15. Juli bis auf 7 m angeschwollen, das ist fast doppelt so viel wie der Pegelstand von 3,70 m beim bisherigen Jahrhunderthochwasser im Jahr 2016. Der für den Katastrophenschutz zuständige Landkreis soll sehr präzise vom zuständigen Landesamt für Umwelt über diese bevorstehende extreme Hochwassersituation informiert worden sein. Es stellt sich daher die Frage, weshalb diese Warnung nicht sofort an die Bevölkerung weitergegeben wurde und warum nicht frühzeitig Evakuierungsmaßnahmen eingeleitet wurden.
Der Landrat des Kreises hatte eine persönliche Verantwortung zurückgewiesen. Gegenüber dem SWR betonte er, verantwortlich für die Alarmierung der Bevölkerung sei die technische Einsatzleitung. Diese habe auch gehandelt, ob rechtzeitig oder zu spät, könne zur Zeit niemand klar beantworten. Der rheinland-pfälzische Innenminister Roger Lewentz betonte, die Landesregierung helfe mit, die Abläufe rund um die Warnungen und die rechtzeitige Einleitung von Rettungsmaßnahmen im Ahrtal restlos aufzuklären. Die StA betont in diesem Zusammenhang, dass die Vorermittlungen sich bisher nicht gegen konkrete Personen richten, ein Anfangsverdacht sei bisher nicht bejaht worden.
12 behinderte Menschen aus Betreuungseinrichtung ertrunken
Ein Schwerpunkt der Ermittlungen betrifft den Tod von zwölf behinderten Menschen in einer Betreuungseinrichtung der Lebenshilfe in Sinzig. Auch hier steht die Frage einer möglicherweise zu spät erfolgten Warnung der Heimleitung und einer daraus folgenden zu späten Evakuierung des Heims im Vordergrund.
StA will sich von keiner Seite unter Druck setzen lassen
Der mit dem Vorgang befasst Oberstaatsanwalt Harald Kruse erklärte in den Vorermittlungen, das Bestehen eines Anfangsverdachts müsse möglichst umfassend und fundiert geklärt werden, um einerseits die sich möglicherweise anschließenden Ermittlungen zielgerichtet führen zu können und andererseits Personen, die in einer extremen Katastrophennacht extrem schwierige Entscheidungen hätten treffen müssen, nicht mit Ermittlungen auf der Grundlage einer unvollständigen Tatsachenbasis zu überziehen und damit persönlich unangemessen zu belasten. Andererseits müsse nach der inzwischen eingetretenen vorläufigen Stabilisierung der Lage im Katastrophengebiet die Frage nach einer etwa bestehenden strafrechtlichen Verantwortung korrekt gestellt werden. Darauf hätten die Betroffenen ein Recht.
Katastrophenschutz soll bundesweit reformiert werden
Inzwischen steht bundesweit der Katastrophenschutz, der gemäß Art. 72 ff GG grundsätzlich Ländersache ist, auf dem Prüfstand. Das Warn- und Alarmierungssystem soll bundesweit reformiert, die technische Ausstattung verbessert werden. Auch die Wiedereinführung von Sirenen, die nach dem Ende des kalten Krieges weitgehend abgeschafft worden waren, wird diskutiert.
Welche Rechte haben Betroffene, wenn die StA Ermittlungen ablehnt?
Personen, die durch eine mutmaßliche Straftat verletzt wurden, haben unter bestimmten Voraussetzungen grundsätzlich einen Anspruch auf Einleitung eines Ermittlungsverfahrens. Gegebenenfalls steht diesen Personen die Möglichkeit eines Ermittlungserzwingungsverfahrens zur Verfügung. Das Ermittlungserziehungsverfahren ist zwar in der StPO nicht normiert, aber in der Rechtsprechung seit Jahren anerkannt und wird von den Gerichten überwiegend analog auf die Vorschrift zum Klageerzwingungsverfahren gemäß § 172 StPO gestützt (OLG Bremen, Beschluss v. 21.9.2017, 1 Ws 55/17; OLG München, Beschluss v. 27.6.2007, 2 Ws 494/06; OLG Brandenburg, Beschluss v. 17.3.2008, 1 Ws 125/07).
Schadensersatzansprüche aus Amtspflichtverletzung
Daneben kommen für Hochwassergeschädigte Schadensersatzansprüche aus dem Gesichtspunkt der Amtspflichtverletzung gemäß § 839 BGB, Art. 34 GG in Betracht.
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