Zwei-Klassen-Justiz


Zwei-Klassen-Justiz

Der deutsche Strafprozess verhindert in vielen Verfahren eine effektive Verteidigung. Eine sinnvolle Verteidigung setzt insbesondere bei größeren Verfahren einen erheblichen Verteidigungsaufwand im Ermittlungsverfahren voraus – doch diesen muss der Beschuldigte selbst finanzieren, sogar wenn sich im Ermittlungsverfahren seine Unschuld herausstellt.

Entsetzt fasst sich der Europäer regelmäßig an die Stirn, wenn wieder einmal ein schwarzer (armer) US-Amerikaner nach Jahrzehnten in der Todeszelle freigelassen wird, weil seine Verurteilung auf einer Verteidigung beruht, die im Nachhinein diese Bezeichnung nicht verdient. Auch die andere Seite des US-Strafrechts ist spätestens seit O. J. Simpsons Freispruch Teil einer populären Binsenwahrheit: Der reiche Beschuldigte kann sich seine Freiheit erkaufen. Obwohl die Staatsanwaltschaften mittlerweile nur zu gerne auch die Finanzstarken und Mächtigen publikumswirksam verfolgt – derjenige, der teure Anwälte für sich springen lassen kann, hat auch heute noch die besseren Karten im Spiel um sein Leben.

Auch im deutschen Strafprozess keine Chancengleichheit?

Außerhalb von Fachkreisen wenig thematisiert ist die Tatsache, dass auch der deutsche Strafprozess eine Zwei-Klassen-Justiz fördert. Natürlich sind die Auswüchse weniger dramatisch als in den Vereinigten Staaten, schon weil die Todesstrafe in unserem Kulturkreis in weiten Teilen der Gesellschaft geächtet ist und die Strafverfolgungsbehörden nach dem gesetzlichen Leitbild nicht ausschließlich der Gegner des Beschuldigten sein sollen, sondern auch entlastende Aspekte ermitteln und in ihren Entscheidungen berücksichtigen müss(t)en.

Aber in einer wachsenden Zahl von Fällen hat der Beschuldigte im Strafprozess in der entscheidenden Phase des Ermittlungsverfahrens – also zu der Zeit, in der die Verdachtsmomente oft noch vage und die Möglichkeit der Einflussnahme zu seinen Gunsten am größten ist – nur dann die Chance auf eine effektive Verteidigung, wenn er sie sich leisten kann.

Pflichtverteidigung?

Selbst bei schwersten Vorwürfen erkennt die Rechtsprechung in vielen Fällen nicht einmal ein Recht auf die Bestellung eines Pflichtverteidigers im Ermittlungsverfahren an. Auch wenn das Gericht dem Beschuldigten zu Beginn der Ermittlungen einen Pflichtverteidiger bestellt, hilft dies dem Mandanten normalerweise nur dann, wenn er nicht auf diesen angewiesen ist. Denn angesichts der gesetzlichen Gebühren, die in diesem Verfahrensstadium wenige hundert Euro betragen, kann ein Pflichtverteidiger (der mehr als ein oder zwei Mandanten als Pflichtverteidiger betreut) gerade dann, wenn es besonders wichtig wäre, ohne zusätzliche Vergütung oft nicht die notwendige Zeit investieren, um umfangreiche Akten auszuwerten und lange Schutzschriften zu verfassen. Sogar in den Fällen, in denen sich nach Abschluss der Ermittlungen herausstellt, dass der Beschuldigte nicht hinreichend verdächtig ist, sich strafbar gemacht zu haben, hat er nach geltendem Recht grundsätzlich keinen Anspruch auf Erstattung seiner angemessenen Verteidigerkosten. Seine Verteidigung kostet so auch den Unschuldigen schnell ein Vermögen.   

Starke Verteidigung, starker Rechtsstaat

Ein starker Rechtsstaat stellt den jagenden Strafverfolgern frühzeitig eine bremsende Verteidigung gegenüber. Es ist ein Ammenmärchen, dass die Staatsanwaltschaft eine „objektive Behörde“ sein kann. Wer ermittelt, muss Hypothesen bilden, einen Jagdtrieb entwickeln, ja eine gewisse Voreingenommenheit ausleben. Dass die Staatsanwaltschaft nicht effektiv die Verteidigung des Beschuldigten übernehmen kann, ist eine Selbstverständlichkeit, die die Strafprozessordnung (außerhalb der Bagatellkriminalität) für die Hauptverhandlung ausdrücklich anerkennt.

Jedenfalls bei Umfangsverfahren, also Verfahren mit größeren Datenmengen, ist eine frühzeitige Verteidigung im Ermittlungsverfahren ein Gebot der rechtsstaatlichen Notwendigkeit. Der Gesetzgeber, der 1877 die Strafprozessordnung ins Leben rief, kannte solche Verfahren noch nicht. Sie werden aber aufgrund der technischen Möglichkeiten, fast unendliche Mengen an Daten zu speichern und zu beschlagnahmen, immer häufiger. Der Selektionsprozess, der mit der zunehmenden Datenflut bereits zu Beginn eines Verfahrens verbunden ist, ist jedoch besonders fehleranfällig. Eine Strafverfolgungsbehörde, die im Ermittlungsverfahren bereits die Daten auswählt, die ihre Ermittlungshypothese stützt, braucht dringender denn je einen Gegenpol, der ein Gleichgewicht zwischen Jäger und Gejagtem herstellt. Ob ein solcher Gegenpol geschaffen wird, darf keine Frage der Finanzkraft des Beschuldigten sein.

Der Wert des Rechtsstaats

Natürlich ist die Frage, ab welchem Zeitpunkt ein Rechtsstaat dem von ihm Verfolgten eine effektive Verteidigung ermöglicht, auch eine Frage nach dem finanziellen Engagement, das ein Staat einem fairen Verfahren zu Teil werden lässt. Man kann darauf hinweisen, dass eine Beendigung des Strafprozesses bereits im Stadium des Ermittlungsverfahrens den Staat deutlich billiger zu stehen kommen kann als eine monate- oder jahrelange Hauptverhandlung, in der das Gericht die Versäumnisse des Ermittlungsverfahrens erst aufarbeiten muss, um dann den (mittlerweile wirtschaftlich vernichteten) Angeklagten freizusprechen. Entscheidend aber ist die Einsicht, dass die Frage, ab wann eine effektive Verteidigung – unabhängig von den finanziellen Möglichkeiten des Beschuldigten – ermöglicht wird, auch die Frage danach ist, was der Rechtsstaat sich selbst wert ist.