Wann die Versicherung die Leistungen trotz verspäteter Schadenanzeige nicht kürzen darf
Ein im Außendienst tätiger Verkaufsleiter war wegen eines operativ behandelten Bandscheibenvorfalls seit dem 30. September 2016 arbeitsunfähig und konnte deshalb seine berufliche Tätigkeit nicht ausüben.
Krankentagegeldversicherung als Zusatzversicherung zur GKV
Seiner Versicherung, bei der er einen privaten Versicherungsvertrag über eine Krankentagegeldversicherung als Zusatzversicherung zur gesetzlichen Krankenversicherung abgeschlossen hatte, zeigte er die Arbeitsunfähigkeit erst knapp elf Monate später an – am 14. August 2017.
Er begründete dies damit, dass aufgrund seiner Erkrankung und der langen und intensiven Behandlungsdauer, die auch psychische Beeinträchtigungen nach sich gezogen habe, die Existenz einer Krankentagegeldversicherung schlicht vergessen habe. Dies sei weder vorsätzlich noch grob fahrlässig geschehen.
Versicherung zahlt wegen verspäteter Anzeige nur den halben Tagessatz
Die Versicherung führte eine Leistungsprüfung durch und erkannte den Versicherungsfall dem Grunde nach an. Sie zahlte ihm auch Krankentagegeld. Allerdings reduzierte sie den Tagessatz für fast die gesamte Dauer um die Hälfte. Sie zahlte für 275 Tage lediglich einen Tagessatz von 37,50 statt der vollen 75 Euro.
Die Versicherung begründete dies mit der verspäteten Anzeige des Versicherungsfalls. Der Versicherungsnehmer habe die Anzeigeobliegenheit grob fahrlässig verletzt, indem er die Arbeitsunfähigkeit erst knapp einem Jahr nach Eintritt gemeldet habe. Deshalb sei es ihr nicht mehr möglich gewesen, den Eintritt des Versicherungsfalls zu prüfen.
OLG: Versicherung war nicht berechtigt, die Leistungen zu kürzen
Das Saarländische OLG hat entschieden, dass die Versicherung nicht dazu berechtigt war, die Leistungen wegen einer grobfahrlässigen Obliegenheitsverletzung des Klägers um 50 Prozent zu kürzen.
- Zwar habe der Kläger gegen die in §§ 18 Abs. 2, Satz 1 der Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) vereinbarte Obliegenheit verstoßen,
- die ärztlich festgestellte Arbeitsunfähigkeit unverzüglich, spätestens aber am Tag des tariflich vereinbarten Leistungsbeginns,
- durch Vorlage einer Bescheinigung des behandelnden Arztes anzuzeigen.
Zudem spreche auch einiges dafür, dass diese Obliegenheitsverletzung grob fahrlässig erfolgte, was nach dem Gesetz vermutet wird (§ 28 Abs. 2 Satz 2 VVG) und gerade in Fällen einer nicht unwesentlich verspäteten Anzeige des Versicherungsfalls häufig naheliegt.
Darum war der der Versicherer trotz verspäteter Anzeige zur vollen Krankentagesgeld-Leistung verpflichtet
Die vollte Leistungspflicht trotz verspäteter Anzeige begründete das Gericht wie folgt:
Der Versicherer bleibt auch bei vorsätzlicher oder grobfahrlässiger Verletzung einer vertraglich vereinbarten Obliegenheit zur Leistung verpflichtet, soweit deren Verletzung weder für den Eintritt oder die Feststellung des Versicherungsfalles noch für die Feststellung oder den Umfang der Leistungspflicht des Versicherers ursächlich ist (§ 19 Abs. 1 Satz 6 AVB; § 28 Abs. 3 Satz 1 VVG).
Erforderlich ist eine konkrete Kausalität.
Es genügt nicht, dass die Obliegenheitsverletzung bloß generell geeignet war, die Interessen des Versicherers zu gefährden. Der Nachweis der fehlenden Kausalität obliegt dabei dem Versicherungsnehmer.
Der Kausalitätsgegenbeweis ist erst dann geführt, wenn feststeht, dass die Obliegenheitsverletzung sich in keiner Weise auf die Feststellung des Versicherungsfalls oder das Ob und den Umfang der Leistungspflicht ausgewirkt hat.
Dass der Versicherungsnehmer im fraglichen Zeitraum die Voraussetzungen für die Versicherungsleistung erfüllte und die Versicherung grundsätzlich eintrittspflichtig war, hat sie, wie sie in der Klageerwiderung einräumte, nach Durchführung ihrer Leistungsprüfung anerkannt.
Warum die verzögerte Anzeige die Feststellungsmöglichkeiten der Versicherung nicht beeinträchtigte
Das Gericht sah in dem vorliegenden Fall daher eben keine Kausalität der Obliegenheitsverletzung. Zwar hatte die Versicherung behauptet, bei einer fristgerechten Anzeige hätte sie nach einem Zeitraum von drei bis vier Monaten eine gutachterliche Kontrolluntersuchung vorgenommen, um die Voraussetzungen ihrer Eintrittspflicht zu prüfen. Aus dieser Untersuchung hätten sich dann möglicherweise abweichende Erkenntnisse ergeben, so die Versicherung.
Das OLG führte dazu aus, dass der Verlust solcher eigenen Erkenntnismöglichkeiten des Versicherers für sich allein genommen nicht ausreicht, um die Ursächlichkeit der verspäteten Anzeige des Versicherungsfalls darzulegen, solange – wie im vorliegenden Fall – nur das Feststellungsverfahren und nicht das Ergebnis der Feststellungen für den Versicherer nachteilig beeinflusst wurde.
Verspätete Schadenanzeige führt nicht automatisch zu Leistungsfreiheit
Eine Leistungsfreiheit des Versicherers tritt daher nicht ein, wenn alle durch die Verzögerung der Schadenanzeige begründeten Nachteile ausgeglichen sind, wenn also die Beweislage des Versicherers zum Zeitpunkt ihres (verspäteten) Eingangs mit der vorher bestehenden identisch ist. Das aber sei aber unstreitig der Fall gewesen.
Die beklagte Versicherung war, wie sie nach Durchführung der Leistungsprüfung zugestanden hat, für den Versicherungsfall eintrittspflichtig.
(Saarländisches OLG, Urteil v. 23.10.2019, 5 U 19/19).
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Hintergrund: Obliegenheiten im Versicherungsrecht
Es wird zwischen gesetzlichen und vertraglichen Obliegenheiten unterschieden. Die gesetzlichen Obliegenheiten sind im Versicherungsvertragsgesetz (VVG) geregelt. Sie gelten für alle Versicherungssparten.
Gesetzlichen Obliegenheiten:
Die wichtigsten gesetzlichen Obliegenheiten sind die vorvertragliche Anzeigepflicht (§§ 16 bis 22 VVG), Unterlassungs- und Anzeigepflichten im Zusammenhang mit einer Gefahrenerhöhung (§§ 23-30 VVG), die Obliegenheit zur Anzeige eines Versicherungsfalls (§ 33 VVG) und die Auskunfts- und Belegpflicht (§ 34 VVG).
Vertragliche Obliegenheiten:
In den Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) werden die vertraglichen Obliegenheiten vereinbart. § 28 Versicherungsvertragsgesetz regelt die Rechtsfolgen, die eintreten können, falls eine vertragliche Obliegenheit verletzt wird. Obliegenheiten müssen transparent formuliert sein (§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB). Das bedeutet, dass der Versicherungsnehmer deutlich erkennen kann, was von ihm verlangt wird und unter welchen Umständen er seinen Versicherungsschutz verlieren kann. Zudem dürfen Obliegenheiten den Versicherungsnehmer nicht unangemessen benachteiligen (§ 307 Abs. 2 BGB).
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