Einrichtung der Arbeitnehmermitbestimmung im Konzern bei mitbestimmungsfreier Konzernmutter
Hintergrund
Die Verfahrensbeteiligten streiten darüber, ob bei der Antragsgegnerin, einer in Deutschland ansässigen Zwischenholding, ein Aufsichtsrat nach den Bestimmungen des Mitbestimmungsgesetzes einzurichten ist. Antragsteller ist der Gesamtbetriebsrat einer 100-prozentigen Tochtergesellschaft der Antragsgegnerin mit Sitz in Deutschland. Die Antragsgegnerin hat neben dieser weitere vier 100-prozentige Tochtergesellschaften sowie eine weitere Tochter in Deutschland, an der sie 74,9 % hält. Sämtliche Töchter der Antragsgegnerin beschäftigen zusammen etwa 3010 Arbeitnehmer; keine der Tochtergesellschaften beschäftigt mehr als 1400 Arbeitnehmer; bei der Antragsgegnerin selbst sind fünf Arbeitnehmer beschäftigt.
Die Antragsgegnerin selbst wird zu 51 % direkt durch eine in der Schweiz ansässige Holding, die herrschende Konzernmutter, gehalten. Die übrigen 49 % der Anteile der Antragsgegnerin werden von einer anderen Gesellschaft mit Sitz in der Schweiz gehalten. Diese ist 100-prozentige Tochter einer niederländischen Gesellschaft, welche wiederum 100-prozentige Tochter der Schweizer Konzernmutter ist.
Entscheidungsgründe:
Der Beschluss des OLG Hamburg vom 4.7.2017 (Az.: 11 W 19/17)
Das OLG Hamburg bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung und sieht die Antragsgegnerin jedenfalls nach § 5 Abs. 3 MitbestG zur Bildung eines mitbestimmten Aufsichtsrats verpflichtet. Denn der Grundsatz, dass im Konzern die Mitbestimmung im herrschenden Konzernunternehmen stattzufinden hat, scheitere, wenn dieses selbst nicht mitbestimmungspflichtig ist, wie zum Beispiel im vorliegenden Fall bei Sitz der herrschenden Konzernmutter im Ausland. In diesem Fall fingiere § 5 Abs. 3 MitbestG das abhängige inländische Unternehmen des Konzerns, das dem herrschenden Unternehmen am nächsten steht und gemäß dem Mitbestimmungsgesetz verfasst ist, als herrschendes Unternehmen, sofern die Konzernmutter unmittelbar oder mittelbar über weitere abhängige Unternehmen die Konzernleitung über dieses ausübt.
In der umstrittenen Frage, welche Anforderungen an die Ausübung der Konzernleitungsmacht bei Einschaltung einer Zwischenholding zu stellen sind, schließt sich das OLG Hamburg der Auffassung weiterer Oberlandesgerichte an. Ob die Zwischenholding selbst tatsächlich Leitungsmacht ausübt, sei unerheblich. Maßgebend sei nur, dass die Konzernmutter über die Zwischenholding Leitungsmacht ausübt oder jedenfalls ausüben kann. Denn jede rechtstechnische Ausgestaltung der Leitungswege werde durch die bestehenden Mehrheitsverhältnisse ermöglicht und könne jederzeit Änderungen unterliegen. Eine wenigstens einfache Leitung oder ein Mindestmaß an Leitungsmöglichkeit durch die Zwischenholding sei auch nach dem Sinn und Zweck der Mitbestimmung der Arbeitnehmer nicht zu fordern. Dies sei auch aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit sowie zur Einschränkung von Umgehungsmöglichkeiten geboten.
Hinweise für die Praxis
Nach dem Mitbestimmungsgesetz haben in Unternehmen, die in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft, einer Kommanditgesellschaft auf Aktien, einer GmbH oder einer Genossenschaft betrieben werden und in der Regel mehr als 2000 Arbeitnehmer beschäftigen, die Arbeitnehmer ein Mitbestimmungsrecht. Die Mitbestimmung wird dadurch umgesetzt, dass die in diesen Unternehmen zwingend zu bildenden Aufsichtsräte mit Mitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer paritätisch besetzt werden, wobei die Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer durch die Arbeitnehmerschaft gewählt werden.
Die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte, in die sich das OLG Hamburg mit seiner Entscheidung einreiht, stärkt im Ergebnis diese Mitbestimmung der Arbeitnehmer, indem sie dafür sorgt, dass auch in Konstellationen mit Auslandsbezug das nationale Mitbestimmungsrecht möglichst weitgehend zur Anwendung gelangt. Eine Änderung dieser Rechtsprechung dürfte auf absehbare Zeit nicht erfolgen, zumal das OLG Hamburg die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof vorliegend mit Hinweis auf die gefestigte Rechtsprechung der Oberlandesgerichte nicht zugelassen hat.
Von Rechtsanwalt Dr. Christoph Fingerle, Friedrich Graf von Westphalen & Partner mbB, Freiburg
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