Leitsatz (redaktionell)

Das Gericht hat von Amts wegen selbst zu prüfen, ob alle Voraussetzungen des erhobenen Anspruchs erfüllt sind und ist gehalten, das Vorbringen der Beteiligten unter jedem möglichen rechtlichen Gesichtspunkt zu prüfen. Darin kann es durch Erklärungen der Beteiligten nicht eingeschränkt werden.

 

Orientierungssatz

Zur Verweisbarkeit eines selbständigen Handwerkers auf abhängige Beschäftigungen nach RVO § 1246 Abs 2.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 103 Fassung: 1974-07-30

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 30. Januar 1975 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der am 11. April 1921 geborene Kläger ist Klempner- und Installateurmeister. Er betreibt seit 1954 ein Installationsunternehmen mit in der Regel 2 bis 3 Gesellen und 2 bis 3 Lehrlingen. Im Herbst 1962 erlitt er einen Unfall, der zu einer Halbseitenlähmung links führte. Die Beklagte, bei der er pflichtversichert ist, zahlte ihm für die Zeit von April 1964 bis Februar 1967 zunächst Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und dann Rente wegen Berufsunfähigkeit auf Zeit. Mit Bescheid vom 18. Januar 1967 "entzog" sie ihm die Rente; zur Begründung führte sie aus:

Bei der Größe Ihres Betriebes ist Ihre aktive Mitarbeit nicht notwendig. Aufgrund Ihres Gesundheitszustandes sind Sie jedoch in der Lage, aufsichtsführende Tätigkeiten in Ihrem eigenen Betrieb auszuführen und auch sämtliche Büroarbeiten zu verrichten. Darüber hinaus könnte Ihnen in größeren Betrieben die Tätigkeit eines Geschäftsführers zugemutet werden.

Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen mit Urteil vom 5. September 1967 den Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. März 1967 an Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen. Auf die Revision des Klägers hat der 12. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) mit Urteil vom 29. Juli 1971 - 12 RJ 26/70 - das Urteil des Berufungsgerichts aufgehoben und den Rechtsstreit zurückverwiesen. In den Gründen ist ausgeführt: Der Bescheid habe nicht die Rente entzogen, sondern nur die - nach Ablauf der Zeitrente zunächst formlos vorgenommene - Weiterzahlung der Rente für die Zukunft verweigert. Das LSG habe einen wesentlichen Anhalt für seine Auffassung, der Kläger sei nicht berufsunfähig, in den Einkünften erblickt, die er trotz seiner körperlichen Behinderung während der Jahre 1964 bis 1966 in seinem Gewerbebetrieb erzielt habe. Dabei habe es aber nicht geprüft, ob der Gewerbeertrag auf anderen Ursachen, wie z. B. der Mitarbeit der Ehefrau, einer günstigeren Auftragslage oder der zusätzlichen Beschäftigung eines dritten Gesellen, beruhe. Das müsse noch aufgeklärt werden.

In dem erneuten Berufungsverfahren hat das LSG ein Gutachten des Wirtschaftsprüfers Diplom-Volkswirt Z, M, eingeholt sowie die Ehefrau und einen Gesellen des Klägers als Zeugen vernommen. In der mündlichen Verhandlung hat der Bevollmächtigte der Beklagten erklärt, aufgrund der Beweisaufnahme werde eine Verweisung des Klägers auf unselbständige Tätigkeiten nicht mehr geltend gemacht. Mit dem angefochtenen Urteil hat das LSG die Berufung der Beklagten gegen das Urteil vom 5. September 1967 zurückgewiesen. Es hat u. a. ausgeführt: Der Kläger könne wegen der Lähmung nur noch leichte Arbeiten eines praktisch Einarmigen, nämlich vorwiegend sitzende und aufsichtführende Tätigkeiten verrichten, nicht aber auf der Baustelle praktisch mitarbeiten. Ob für den erzielten Gewerbeertrag die Verwertung der dem Kläger verbliebenen Arbeitskraft oder sonstige Umstände überwiegend ursächlich gewesen seien, habe sich nicht abschließend klären lassen. Der Kläger sei berufsunfähig, weil er nicht mehr produktiv (handwerklich) mitarbeiten könne, was bei ähnlich strukturierten Betrieben etwa 70 % der Arbeitskraft des Inhabers ausmache. Unstreitig kämen für ihn andere Verweisungstätigkeiten nicht in Betracht.

Mit der zugelassenen Revision trägt die Beklagte vor: Das Berufungsgericht habe die Bestimmung des § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht richtig angewendet. Der Kläger könne auch auf eine allein aufsichtführende selbständige (nicht handwerkliche) Tätigkeit verwiesen werden. Das Gutachten sei - entgegen § 128 Sozialgerichtsgesetz (SGG) - nicht richtig gewürdigt worden; aus ihm ergebe sich, daß der Kläger durch seine jetzige Tätigkeit zumindest noch die Lohnhälfte zu erzielen vermöge. Auch hätte nicht auf die Prüfung verzichtet werden dürfen, ob der Kläger eine unselbständige Tätigkeit ausüben könne. Die Erklärung ihres Bevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung habe dieser Prüfung nicht entgegen gestanden. Schließlich hätte das Berufungsgericht sich nicht mit dem im April 1967 erstatteten medizinischen Gutachten zufrieden geben dürfen, sondern die jetzige körperliche Leistungsfähigkeit des Klägers ermitteln müssen.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zurückverwiesen werden mußte.

Soweit das Berufungsgericht die Berufsfähigkeit des Klägers in Bezug auf seine derzeit ausgeübte selbständige Tätigkeit als Leiter eines Installationsunternehmens und auf andere selbständige, nämlich allein aufsichtführende Tätigkeiten beurteilt hat, sind seine Ausführungen nicht zu beanstanden.

Die Feststellungen über die körperliche Leistungsfähigkeit des Klägers sind schlüssig. Zwar beruhen sie auf zwei Gutachten, die im April 1967 erstattet worden sind. Aber das Berufungsgericht hatte keine Veranlassung, diese Gutachten für die Zeit bis zur mündlichen Verhandlung im Januar 1975 ergänzen zu lassen. Denn zum einen hat keiner der Prozeßbeteiligten eine erneute Begutachtung angeregt oder auf Gesichtspunkte, die für eine Änderung der Leistungsfähigkeit sprechen könnten, hingewiesen; zum anderen haben beide Gutachter erklärt, daß mit einer Besserung des bei dem Kläger bestehenden Dauerzustandes nicht zu rechnen sei.

Die Folgerungen, die das Berufungsgericht aus dem Gutachten des Wirtschaftsprüfers gezogen hat, halten sich im Rahmen der ihm obliegenden freien Beweiswürdigung.

Zutreffend ist das Berufungsgericht auch zu der Rechtsansicht gekommen, daß der Kläger in seinem Beruf, nämlich der Leitung eines kleineren Installationsgeschäfts, weniger als die Hälfte der Erwerbsfähigkeit eines vergleichbaren gesunden Versicherten besitzt, weil er von den dort anfallenden Tätigkeiten nur noch den etwa 30 % ausmachenden Teil der Büroarbeiten und der Aufsicht leisten kann. Dabei kann dahinstehen, ob die frühere Rechtsprechung, wonach selbständige Handwerker berufsunfähig sind, wenn sie in ihrem Handwerk die wesentlichen körperlichen und geistigen oder auch nur eine dieser Tätigkeiten nicht mehr oder nicht mehr in hinreichendem Umfang ausüben können (BSG 2, 91, 93; ähnlich BSG in SozR Nr. 3 zu § 27 AVG aF), heute noch gilt oder durch das Handwerkerversicherungsgesetz vom 8. September 1960 (BGBl I 737) und die neueren Erkenntnisse (BSG 22, 265 = SozR Nr. 45 zu § 1246 RVO; SozR Nr. 69 zu § 1246 RVO) über die Unzulässigkeit eines "Gruppenschutzes" abgelöst ist.

Das LSG hat es aber unterlassen, die Bedingungen festzustellen, unter denen der Kläger in abhängiger Beschäftigung weiter tätig sein könnte. Solche Feststellungen wären erforderlich gewesen. Auf der Unterlassung beruht das Urteil.

Wie der Senat bereits früher entschieden hat, kann im Rahmen des § 1246 RVO ein selbständiger Handwerker auch auf eine abhängige Beschäftigung verwiesen werden (SozR Nr. 70 zu § 1246 RVO mit weiteren Nachweisen). An dieser Rechtsauffassung ist festzuhalten.

Das Berufungsgericht scheint eine unselbständige Beschäftigung deshalb nicht in den Kreis seiner Überlegungen einbezogen zu haben, weil solche Tätigkeiten "unstreitig" für den Kläger nicht in Betracht kämen. Es geht anscheinend davon aus, daß die vom Bevollmächtigten der Beklagten in der mündlichen Verhandlung abgegebene Erklärung eine Verweisung des Klägers auf eine abhängige Beschäftigung ausschlösse. Das ist jedoch nicht richtig.

Das Gericht hat von Amts wegen selbst zu prüfen, ob alle Voraussetzungen des erhobenen Anspruchs erfüllt sind und ist gehalten, das Vorbringen der Beteiligten unter jedem möglichen rechtlichen Gesichtspunkt zu prüfen. Darin kann es durch Erklärungen der Beteiligten nicht eingeschränkt werden. Deshalb durfte das Berufungsgericht die beantragte Rente nur zusprechen, wenn sämtliche Voraussetzungen des Klageanspruchs erfüllt waren, darunter auch die, daß der Kläger "alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm ... zugemutet werden können", nicht mehr ausüben kann. Zu solchen Tätigkeiten gehören auch abhängige Beschäftigungen.

Das LSG hatte zwar seiner Entscheidung die rechtliche Beurteilung des BSG - im Urteil vom 29. Juli 1971 - zugrunde zu legen (§ 170 Abs. 5 SGG). Durch diese Pflicht war es aber nicht gehindert, die Verweisung des Klägers auf unselbständige Beschäftigungen zu prüfen. Denn das Urteil vom 29. Juli 1971 enthält keine rechtliche Beurteilung dahin, daß eine solche Verweisung ausgeschlossen sei; die Entscheidung hat sich vielmehr auf das seinerzeitige Vorbringen der Revision des Klägers beschränkt und hatte keinen Anlaß, auf die Frage der unselbständigen Beschäftigung einzugehen.

Da der Senat die erforderlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann, mußte der Rechtsstreit zurückverwiesen werden.

Das Berufungsgericht wird nunmehr - unter Beachtung insbesondere der Urteile des BSG SozR Nrn. 101 und 108 zu § 1246 RVO - prüfen müssen, auf welche unselbständigen Beschäftigungen der Kläger aufgrund seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit und seiner beruflichen Kenntnisse zumutbar verwiesen werden kann und ob es Arbeitsplätze dieser Art gibt. Es wird auch über die Kosten befinden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647932

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