Rz. 7
Zunächst einmal haben Leistungsberechtigte, die einen Ausreisetermin verstreichen lassen und eine Ausreisemöglichkeit nicht wahrnehmen und bei denen die Ausreise nicht aus Gründen, die sie nicht zu vertreten haben, nicht durchgeführt werden konnte, als Rechtsfolge keinen Anspruch auf Leistungen nach §§ 2, 3 und 6. Dabei handelt es sich um Leistungen in besonderen Fällen (§ 2), u. a. Leistungen nach dem SGB XII, Grundleistungen (§ 3), u. a. notwendiger Bedarf in Aufnahmeeinrichtungen und außerhalb davon, Leistungen für Bedarfe für Bildung und Teilhabe. Das BVerfG hatte im Urteil v. 18.7.2012 (1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11) zwar nicht über § 1a Abs. 1 der heute geltenden Fassung, sondern über die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift des § 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 und 3 sowie Satz 3 AsylbLG in der damals geltenden Fassung zu entscheiden. Nach Abs. 1 der damals geltenden Fassung bestand ein Anspruch auf Leistungen, soweit dies im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar geboten war. Die Entscheidung des BVerfG ist jedoch deshalb bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der heute geltenden Fassung von Abs. 1 zu beachten, weil das BVerfG eine Absenkung des Leistungsniveaus unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum wegen Verstoßes gegen Art 1 Abs. 1 GG (Menschenwürde) i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 1 GG für verfassungswidrig erklärt hat. Das BVerfG hat daher angeordnet, dass die Grundleistungen nach § 3 Abs. 2 AsylbLG bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung sich an § 28 SGB XII zu orientieren haben. Allerdings wird im Urteil des BVerfG es nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass für hinreichend konkret beschrieben Personengruppen konkrete Minderbedarfe geregelt werden dürfen (Mergler/Zink, AsylbLG, § 1a Rz. 10 m. w. N.).
Rz. 8
Obwohl das BVerfG die Verfassungsmäßigkeit von § 1a nicht infrage stellte, hat der Gesetzgeber mit der ab 21.8.2019 geltenden Regelung (vgl. Rz. 2b) der Entscheidung des BVerfG (a. a. O.) Rechnung getragen und in Abs. 1 Satz 2 einen eigenständigen Leistungsanspruch normiert. Die Regelung sieht vor, dass bis zu ihrer Ausreise oder der Durchführung ihrer Abschiebung nur noch Leistungen zur Deckung ihres Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege gewährt werden. Genannt wird der Bedarf an Ernährung, Unterkunft, Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege. Der Anspruch auf Krankenhilfe gemäß § 4 bleibt ebenfalls bestehen. Gemäß Abs. 1 Satz 3 können bei Vorliegen besonderer Umstände auch andere Leistungen i. S. v. § 3 Abs. 1 Satz 1 gewährt werden. Es wird argumentiert, diese Regelung sei entgegen ihrem Wortlaut verfassungskonform nicht als Ermessensnorm auszulegen, da das Existenzminimum bei Vorliegen besonderer Umstände zu gewährleisten ist (Oppermann, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., AsylbLG, § 1a Rz. 38 und 203 mit Hinweis auf Hess. LSG, Beschluss v. 26.2.2020, L4 AY 14/19 B ER, und Bay. LSG, Beschluss v. 6.9.2022, L 8 AY 73/22 B ER).
Gemäß Abs. 1 Satz 4 sollen die Leistungen als Sachleistungen erbracht werden. Ein Ermessen steht dem Leistungsträger auch hier nicht zu. Gemäß § 14 Abs. 1 sind die Leistungseinschränkungen auf 6 Monate zu befristen und ggf. nach § 14 Abs. 2 fortzuführen, wenn die Voraussetzungen weiterhin vorliegen.
Rz. 9
Darüber hinaus werden in Teilen der Literatur und der Rechtsprechung (Oppermann, a. a. O., Rz. 207 ff. m. w. N.) weitergehende verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich der Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums geäußert. Die Leistungsgewährung dürfe nicht auf einen physischen Kernbereich der Existenz begrenzt werden. Zur Begründung wird die Rechtsprechung des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit von § 31a SGB II herangezogen (BVerfG, Urteil v. 5.11.2019, 1 BvL 7/16, und LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 24.4.2013, L 20 AY 153/12 B ER). Das Sächsische LSG (Beschluss v. 3.3.2021, L 8 AY 8/20 B ER) legt zugrunde, dass Abs. 1 offensichtlich verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht entspreche, sieht im Eilverfahren indes von einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG ab. Auch das BVerfG (Nichtannahmebeschluss v. 12.5.2021, 1 BvR 2682/17) hat daran festgehalten, dass der Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums sich auf die unbedingt erforderlichen Mittel als Gewährleistung zur Sicherung sowohl der physischen Existenz als auch zur Sicherung eines Mindestmaßes an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben erstreckt. Die Gewährleistung lasse sich nicht in einen "Kernbereich" der physischen und einen "Randbereich" der sozialen Existenz aufspalten, denn die physische und soziokulturelle Existenz würden durch Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG einheitlich geschützt. Die Verpflichtung zur Sicherung des Existenzminimums dürfe auch zur Erreichung anderweitiger, etwa migrationspolitischer Ziele, nicht relativiert werden.