Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Klage gegen Vollstreckung eines Aufhebungs- und Erstattungsbescheids. Rechtswegverweisung. fehlerhafter, aber wirksamer Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts. Rechtsanwendung durch die zur Entscheidung berufenen Sozialgerichte in materieller und prozessualer Hinsicht. statthafter Rechtsbehelf. sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Bestandskraft des Bescheids. wirksame Bekanntgabe. Beweiskraft der Postzustellungsurkunde. Verjährung. Erstattungsbescheid mit gleichzeitiger Regelung zur Durchsetzung des Bescheids (hier: Aufrechnungserklärung). Verjährungsfrist: 30 Jahre

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bei rechtsfehlerhafter, gleichwohl wirksamer Verweisung (hier: Sozialrechtsweg statt eigentlich eröffnetem Verwaltungsrechtsweg) haben die aufgrund dessen zur Entscheidung berufenen Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit das einschlägige materielle Recht anzuwenden, während sie in prozessualer Hinsicht das Verfahren nach ihrer Prozessordnung (SGG) fortzusetzen haben.

2. Die förmliche Zustellung durch die Post mittels Zustellungsurkunde gemäß § 182 Abs 1 S 2 ZPO begründet den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen, wozu auch die bewirkte Einlegung des zugehörigen Schriftstücks in den zur Wohnung des Adressaten gehörenden Briefkasten sowie das Datum der Zustellung mit Uhrzeit zählt.

3. Aus dem Verweis in § 50 Abs 4 S 3 SGB X auf § 52 SGB X folgt, dass jedenfalls Verwaltungsakte, die zugleich mit der Festsetzung der Erstattungsforderung nach § 50 Abs 3 S 1 SGB X zur Durchsetzung des festgestellten Erstattungsanspruchs ergehen, nach § 52 Abs 2 SGB X eine Verjährungsfrist von 30 Jahren, gerechnet ab Rechtskraft des Durchsetzungsbescheides, in Gang setzen, welche die 4-jährige Verjährungsfrist gemäß § 50 Abs 4 S 1 SGB X auch bei Erstattungsansprüchen verdrängt. Eine zugleich mit dem Erstattungsbescheid erklärte Aufrechnung stellt eine solche Regelung zur Durchsetzung des Anspruchs dar.

 

Orientierungssatz

Statthafter Rechtsbehelf für ein Begehren auf Einstellung der Zwangsvollstreckung aus einem Aufhebungs- und Erstattungsbescheids mangels vollstreckbarem Anspruch ist eine (vorbeugende) Feststellungsklage gemäß § 55 SGG.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 14.05.2020; Aktenzeichen B 4 AS 74/20 B)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 11.09.2019 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen die Vollstreckung eines Aufhebungs- und Erstattungsbescheides durch den Beklagten.

Mit Bescheid vom 16.04.2007 hob der Beklagte unter anderem die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01.02.2005 bis 31.12.2005 in Höhe von 3.916,74 € auf (Nr. 1), machte die Erstattung dieses Betrags geltend (Nr. 2), verfügte weiterhin die Aufrechnung der entstandenen Überzahlung mit den ab 01.05.2007 bestehenden Ansprüchen auf Arbeitslosengeld II (Nr. 3) und ordnete die sofortige Vollziehung der verfügten Aufhebung und Erstattung an (Nr. 5). Die Zustellung des Bescheides erfolgte durch Postzustellungsurkunde. In der in den Akten des Beklagten befindlichen Zustellungsurkunde beurkundete die Zustellerin T. die Einlegung des Bescheides in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten für den 19.04.2007.

Erst am 03.05.2016 erfolgte die behördeninterne Mitteilung an die Kreiskasse des Beklagten als der zuständigen Einzugsstelle über den nach Tilgung von 80,00 € noch offenen Betrag in Höhe von insgesamt 3.836,74 € zum Zwecke der Sollstellung. Am 25.08.2018 erfolgte eine Mahnung über den noch offenen Betrag zuzüglich Mahngebühren von 5,00 €, insgesamt 3.841,74 €, unter Nennung des Bescheides vom 16.04.2007. Mit Schreiben vom 21.09.2016 kündigte der Beklagte die Zwangsvollstreckung aufgrund dieser Forderung an. Mit Pfändungs- und Überweisungsbeschluss vom 20.10.2016 unternahm der Beklagte einen Pfändungsversuch bei der B.-Bank. Diese teilte dem Beklagten unter dem 28.10.2016 mit, das einzig vom Kläger bei ihr geführte Girokonto weise kein pfändbares Guthaben auf. Es sei ein Pfändungsschutzkonto im Sinne von § 850k Abs. 7 Zivilprozessordnung (ZPO). Mit einer an den Polizeiposten S. gerichteten Strafanzeige vom 05.11.2016 gegen den Beklagten wegen „Verdachts der versuchten Nötigung, der Vollstreckung gegen Unschuldige, der Falschbeurkundung im Amt sowie Gebührenüberhebung“ legte der Kläger zugleich „Beschwerde“ gegen den Pfändungs- und Überweisungsbeschluss vom 20.10.2016 ein und führte zur Begründung unter anderem aus, einen Bescheid aus dem Jahre 2007 gebe es nicht.

Nachdem der Beklagte erstmals im Mai 2017 von einem Beschäftigungsverhältnis des Klägers bei D. (künftig: Arbeitgeber) Kenntnis erlangt hatte, erließ er am 22.05.2017 einen weiteren Pfändungs- und Überweisungsbeschluss über 3.849,08 € (laut beigefügter Forderungsaufstellung 3.836,74 € Hauptforderung, 5,00 € Mahngebühr, zweimal 3,67 € Postzustellungsgebühren), mit dem er die gegenwärtigen und künftigen...

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