Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. unentgeltliche Beförderung. kostenlose Wertmarke. laufende Leistungen für den Lebensunterhalt. Wohngeld. Erwerbsunfähigkeitsrente. Pflegegeld. Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht. Merkzeichen RF. Möglichkeit der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen. Zugangsbarrieren am Veranstaltungsort. Fehlen einer unentgeltlichen Begleitperson
Leitsatz (amtlich)
Die den Anspruch auf eine kostenlose Wertmarke nach § 145 Abs 1 SGB 9 begründende Voraussetzung laufender Leistungen für den Lebensunterhalt wird durch Bezug von Wohngeld nicht erfüllt (Anknüpfung an BSG vom 6.10.2011 - B 9 SB 6/10 R = SozR 4-3250 § 145 Nr 3 und vom 25.10.2012 - B 9 SB 1/12 R = SozR 4-3250 § 145 Nr 4). Knüpft eine laufend bezogene Leistung schon nicht unmittelbar oder mittelbar an die Leistungen des Dritten oder Vierten Kapitels des SGB 12 an, so kann offenbleiben, ob die bezogenen Leistungen wertungsmäßig dem "System des Sozialhilferechts" zuzuordnen sind.
Orientierungssatz
1. Eine Erwerbsunfähigkeitsrente oder Pflegegeld stellen - auch unter Berücksichtigung der erweiternden Auslegung des § 145 Abs 1 S 10 Nr 2 SGB 9 durch die Rechtsprechung (vgl BSG vom 6.10.2011 - B 9 SB 6/10 R = SozR 4-3250 § 145 Nr 3) - keine "für den Lebensunterhalt laufende Leistungen nach dem Dritten und Vierten Kapitel des Zwölften Buches" dar.
2. Die Versorgungsverwaltung und die Sozialgerichte haben lediglich über ein gesundheitliches Merkmal des Befreiungstatbestandes, nicht aber über die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht zu entscheiden (vgl BSG vom 28.6.2000 - B 9 SB 2/00 R = SozR 3-3870 § 4 Nr 26). Über die Befreiung bzw Ermäßigung von den Rundfunkgebühren/-beiträgen entscheidet dagegen alleine die zuständige Landesrundfunkanstalt.
3. Bestehen für den behinderten Menschen wegen der örtlichen und verkehrstechnischen Gegebenheiten Schwierigkeiten, öffentliche Plätze, Geschäfte oä zu erreichen (hier Treppen an Veranstaltungsorten bzw nicht rollstuhlgerechter öffentlicher Nahverkehr), erschweren diese zwar die Möglichkeiten zum Besuch von öffentlichen Veranstaltungen. Sie begründen aber keine medizinische Unfähigkeit zum Besuch dieser Veranstaltungen, wie sie für die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" (Befreiung bzw Ermäßigung von den Rundfunkgebühren/-beiträgen) erforderlich ist.
4. Auch die Frage, ob dem behinderten Menschen tatsächlich eine unentgeltliche Begleitperson zur Verfügung steht, ist unerheblich. Vielmehr kommt es darauf an, ob er allgemein wegen seines Leidens - auch unter Zuhilfenahme einer Begleitperson - Veranstaltungen aufsuchen könnte.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 31.01.2012 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger das Merkzeichen „RF“ zuzuerkennen und ihm ein Beiblatt mit kostenloser Wertmarke zur unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr auszustellen ist.
Der 1973 geborene Kläger verunfallte im Juli 1991. In der Folge besteht bei ihm ein Anfallsleidens (Epilepsie), ein hirnorganisches Psychosyndroms, eine inkomplette Halbseitenlähmung links, ein Zustand nach Femurfraktur links bei Zustand nach Polytrauma sowie ein Polytrauma mit gedeckter Schädel-Hirn-Verletzung, weswegen ihm zuletzt mit Widerspruchsbescheid vom 03.05.2001 ein GdB von 100 seit dem 07.08.2000 sowie die Merkzeichen „G“, „B“ und „aG“ zuerkannt sind. Am 23.11.2011 verunfallte der Kläger erneut. Er zog sich einen Bruch des Schienbeinkopfes links zu, der mit einem Fixateur behandelt wurde. Es verblieb wohl eine Kniefehlstellung.
Der unverheiratete Kläger bezieht eine Erwerbsunfähigkeitsrente sowie Wohngeld. Seit dem 06.12.2011 ist ihm Pflegestufe I zuerkannt, er bezieht Pflegegeld. Er bewohnt alleine eine gemietete Zwei-Zimmer-Wohnung im EG eines Hauses, die er über fünf Stufen erreicht. Seine Mutter versorgt den Haushalt.
Am 26.01.2011 beantragte der Kläger beim Landratsamt R. die Feststellung des Merkzeichens „RF“. Von dort aus wurde ein Entlassungsbericht der Kliniken S. K. vom 08.09.2009 über die dort im Zeitraum vom 21.07.2009 bis 08.09.2009 erfolgte Reha-Maßnahme, beigezogen. In diesem Bericht wurden Diagnosen einer spastischen Hemiparese links, eines hirnorganischen Psychosyndroms nach Schädelhirntrauma, einer symptomatischen Epilepsie mit komplex fokalen und sekundär generalisierten tonisch-klonischen Anfällen, letzter Grand Mal Juni 2009, eines Zustandes nach Femurfraktur links bei Zustand nach Polytrauma sowie eines Polytraumas mit gedeckter Schädel-Hirn-Verletzung Juli 1991 gestellt. Der Kläger sei innerhalb des Hauses und im näheren Außenbereich mit Handstock gehfähig. Größere Menschenansammlungen oder unebenes Gelände hätten ihn verunsichert, so dass er bei größeren Strecken auf einen Rollstuhl zurückgegriffen habe. Im weiteren Behandlungsverlauf sei der Kläger zunehmend stabiler geworden, so dass er die Treppe hab...