Entscheidungsstichwort (Thema)
Aussetzung der Vollstreckung, Erfolgsaussicht der Berufung, Berufskrankheit, Hinterbliebenenrente, Leistungsklage, Zulässigkeit, Verfügungssatz, Inhalt des Bescheides. Auslegung. Verwaltungsverfahren. Rechtsnatur der Aussetzungsentscheidung nach SGG § 199 Abs. 2. Rechtsfolge von SGG § 199 Abs. 2. entsprechende Anwendung der §§ 719 Abs. 1, 707 ZPO
Leitsatz (redaktionell)
Die Verurteilung des Unfallversicherungsträgers zur Zahlung einer Hinterbliebenenrente scheidet aus, wenn dieser im angefochtenen Bescheid nur die Anerkennung einer Berufskrankheit – nicht aber etwaige Sozialleistungen – abgelehnt hatte. Verurteilt das Sozialgericht den Unfallversicherungsträger dennoch zur Zahlung und legt dieser hiergegen Berufung ein, ist die Vollstreckung aus dem Urteil auszusetzen.
Normenkette
SGG § 198 Abs. 2, § 199; ZPO §§ 707, 719; SGB VII §§ 63, 65
Tenor
Die Vollstreckung aus dem Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. Mai 2008 - Aktenzeichen: S 25 U 961/07 - wird bis zur Erledigung des Rechtsstreits in der Berufungsinstanz ausgesetzt (§ 199 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Außergerichtliche Kosten für das Aussetzungsverfahren im Sinne von § 199 Abs. 2 SGG sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Das Sozialgericht (SG) hat im angefochtenen Urteil vom 19. Mai 2008 unter Aufhebung des Bescheids der Antragstellerin (Ast.) vom 15. Februar 2006 und des Widerspruchsbescheids vom 01. Oktober 2007 (richtiger Weise: 26. September 2007) festgestellt, dass es sich bei dem Tumor des verstorbenen Ehemannes der Antragsgegnerin (Ageg.) um ein Pleuramesotheliom und damit eine Berufskrankheit (BK) nach der Nr. 4105 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) handelt, und die Ast. verurteilt, der Ageg. wegen der anzuerkennenden BK Nr. 4105 eine Hinterbliebenenrente zu zahlen.
Mit ihrer Berufung und zur Begründung ihres Antrages auf Aussetzung der Vollstreckung macht die Ast. geltend, die Leistungsklage auf Zahlung einer Hinterbliebenenrente sei bereits unzulässig, da sie in den angefochtenen Bescheiden keine Entscheidung über einen Rentenanspruch getroffen habe, wie sich unschwer aus dem Inhalt der Bescheide ergebe. Zudem hätten die im Verwaltungsverfahren durchgeführten medizinischen und arbeitstechnischen Ermittlungen weder den Vollbeweis für das Vorliegen eines Pleuramesothelioms noch für eine hinreichende Asbestexposition des verstorbenen Ehemannes der Ageg. erbracht, so dass auch das Vorliegen einer BK im Sinne der Nr. 4105 der Anlage zur BKV sowie der Tod des Ehemannes der Ageg. infolge dieser BK nicht festgestellt werden könne. Das SG habe hierzu nicht weiter ermittelt. Zudem fehle es an einem vollstreckungsfähigen Inhalt des Urteils, da weder der Zeitpunkt des Versicherungsfalls festgelegt worden sei, mit der Folge, dass nicht erkennbar sei, welcher Zeitpunkt für die Festlegung des der Hinterbliebenenrente zu Grunde zu legenden Jahresarbeitsverdienstes maßgeblich sei, noch die entsprechenden Jahresarbeitsverdienste des verstorbenen Ehemannes sowie das eigene (anrechenbare) Einkommen von der Ageg. nachgewiesen worden seien.
Die Ageg., die nach ihren Angaben über ein monatliches Einkommen (Witwenrente der Berliner Ärzteversorgung und Altersrente) in Höhe von ca. 2.470 Euro verfügt, widerspricht dem Aussetzungsantrag im Hinblick auf die zu erwartende Verfahrensdauer und ihren wirtschaftlichen Verpflichtungen (Abzahlung des Wohnungseigentums, Unterstützung der 27jährigen im Studium befindlichen Tochter).
II.
Der zulässige Antrag ist begründet.
Nach § 199 Abs. 2 Satz 1 SGG kann der Vorsitzende des Gerichts, das über ein Rechtsmittel zu entscheiden hat, welches keine aufschiebende Wirkung hat, durch einstweilige Anordnung die Vollstreckung aussetzen. Er kann die Aussetzung und Vollstreckung von einer Sicherheitsleistung abhängig machen (Satz 2). Die von der Ast. eingelegte Berufung hat keine aufschiebende Wirkung, weil die Vollstreckbarkeit von Urteilen der Regel entspricht (§ 199 Abs. 1 Nr. 1 SGG) und Ausnahmen (dazu §154 SGG) hier nicht vorliegen.
Maßstab der Entscheidung ist eine von § 199 Abs. 1 SGG und den Rechtsgedanken der §§ 719 Abs. 1, 707 Zivilprozessordnung (ZPO) ausgehende Würdigung der Sachlage.
Allgemein wird angenommen, die Aussetzungsentscheidung nach § 199 Abs. 2 SGG sei eine Ermessensentscheidung, bei der eine Interessenabwägung (Interesse des Vollstreckungsgläubigers an der Vollziehung gegenüber dem Interesse des Vollstreckungsschuldners daran, nicht vor endgültiger Klarstellung leisten zu müssen) unter Einbeziehung der Erfolgsaussicht des Rechtsmittels zu erfolgen habe (ausführliche Nachweise in BSG, Beschluss vom 05. September 2001 - B 3 KR 47/01 R). Dieser Ansatz ist in zwei neueren Beschlüssen des Bundessozialgerichts - unterschiedlich weitgehend - weiter entwickelt worden. Nach dem Beschluss vom 06. August 1999 (B 4 RA 25/98 B - SozR 3-1500 § 199 Nr. 1) räumt § 199 Abs. 2 SGG dem Vorsitzenden kein Ermessen ein (“kann„ = “Kompetenz - Kann„), sondern ermächtigt ihn, eine Entscheidung ...