Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Regelungsanordnung. Anordnungsanspruch. Sozialhilfe. Hilfe zur Pflege. Pflegegrad 1. Entlastungsbetrag in Höhe von bis zu 125 Euro monatlich. Bestehen weiterer (ungedeckter) Bedarfe. Folgenabwägung

 

Leitsatz (amtlich)

Ob bei Vorliegen lediglich eines Pflegegrades von 1 weitere Leistungen bewilligt werden können, die an sich der Pflege zuzurechnen sind, und falls ja, auf welcher Rechtsgrundlage, ist fraglich und umstritten. Im einstweiligen Anordnungsverfahren sind die notwendigen Leistungen ggfs im Wege der Folgenabwägung zu bewilligen.

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 10. Mai 2019 geändert.

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin für die Zeit vom 17. Juni 2019 bis zum 30. November 2019, längstens bis zu einer bestands- bzw. rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, über die bewilligte Leistung von 125,00 Euro monatlich hinaus

- 62,89 Euro monatlich für die zweimal wöchentlich notwendige große Körperpflege

- sowie 260,00 Euro monatlich für eine Reinigungs-/Hilfskraft

zu zahlen. Der Antragsgegner ist zu der zusätzlichen Leistung bzgl. der Reinigungs-/Hilfskraft nur verpflichtet, sofern die Antragstellerin die Anmeldung der Hilfskraft bei der Minijob-Zentrale oder sonst die Legalität der Tätigkeit nachweist.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zu 3/4 zu erstatten. Weitere Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Antragstellerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 10. Mai 2019, mit dem dieses es abgelehnt hat, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr Hilfe zur Pflege über den bewilligten Entlastungsbetrag in Höhe von 125,00 Euro monatlich hinaus zu bewilligen.

Die zulässige Beschwerde ist zum Teil begründet. Dabei ist der Antrag der Antragstellerin, die Hilfe zur Pflege beantragt hat, im Wege der Meistbegünstigung dahingehend auszulegen, dass ggfs. auch Hilfe zur Weiterführung des Haushalts sowie Hilfe in sonstigen Lebenslagen von dem Antrag umfasst sind.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis statthaft, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Voraussetzung hierfür ist regelmäßig, dass sowohl ein Anordnungsanspruch, d.h. ein materieller Leistungsanspruch, als auch ein Anordnungsgrund, d.h. eine Eilbedürftigkeit, gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft gemacht ist.

Die Antragstellerin hat Anspruch auf - vorläufige - Bewilligung der in der Beschlussformel genannten - höheren - Leistungen für die Zeit vom 17. Juni 2019 bis zum 30. November 2019.

Nach dem in der ersten Instanz eingeholten Gutachten der Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. B, das schlüssig und nachvollziehbar ist und dem der Senat folgt, liegt bei der Antragstellerin (nur) der Pflegegrad 1 vor, so dass ein Anspruch auf Leistungen der Hilfe zur Pflege nach den §§ 61 ff. Sozialgesetzbuch/Zwölftes Buch (SGB XII) in der ab dem 1. Januar 2017 geltenden Fassung nur in Form des Entlastungsbetrags gegeben ist. Frau Dr. B hat jedoch festgestellt, dass für einige hauswirtschaftliche Verrichtungen Hilfe notwendig ist, und zwar für die gründliche Wohnungsreinigung, für die Wäschepflege und für das Einkaufen. Weiter reicht der Entlastungsbetrag auch nicht für das Begleichen der für die notwendige große Körperpflege erforderlichen Kosten.

Ob bei Vorliegen lediglich eines Pflegegrades von 1 weitere Leistungen bewilligt werden können, die an sich der Pflege zuzurechnen sind, und falls ja, auf welcher Rechtsgrundlage, ist fraglich und umstritten. Nach dem bis zum 31. Dezember 2016 geltenden Recht existierte mit § 61 Abs. 1 Satz 2 SGB XII eine Öffnungsklausel, auf deren Grundlage Leistungen der Pflege auch gewährt werden konnten, wenn noch keine erhebliche oder höhere Pflegebedürftigkeit vorlag. Diese Möglichkeit ist nach neuem Recht nicht mehr gegeben, gemäß § 63 Abs. 1 SGB XII umfasst die Hilfe zur Pflege nur für Pflegebedürftige der Pflegegrade 2,3,4 und 5 häusliche Pflege, u.a in Form von Pflegegeld und häuslicher Pflegehilfe. Für Pflegebedürftige des Pflegegrades 1 ist in § 66 Satz 1 SGB XII nur ein Entlastungsbetrag von bis zu 125 Euro monatlich vorgesehen. Nach Auffassung des Senats läge jedoch ein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) vor, wenn man Pflegebedürftige des Pflegegrades 1 ohne die erforderliche Hilfe lassen würde (ähnlich Meßling in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, Stand 1. April 2019, § 61 Rn. 63). Diskutiert wird eine Leistungsgewährung gemäß § 27a Abs. 4 SGB XII (abweichende Regelsatzfestlegung), § 70 SGB XII (Hilfe zur Weiterfü...

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