Entscheidungsstichwort (Thema)
Rückwirkende Aufhebung eines Bewilligungsbescheides über Leistungen der Grundsicherung wegen zugeflossener Einkünfte eines selbständig tätigen Hilfebedürftigen
Orientierungssatz
1. Nach § 40 Abs. 1 S. 1 SGB 2 i. V. m. § 45 Abs. 1, Abs. 2 bis 4 SGB 10 ist eine Bewilligungsentscheidung über Grundsicherungsleistungen, auch soweit sie unanfechtbargeworden ist, unter den Einschränkungen der Abs. 2 bis 4 ganz oder teilweise aufzuheben.
2. Schwankt das für den Selbständigen zu erwartende Einkommen von vorneherein, so ist typischerweise der Anwendungsbereich des § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB 2 i. V. m. § 328 Abs. 1 SGB 3 eröffnet. Der Erlass eines endgültigen anstelle eines vorläufigen Bescheides ist dann von Anfang an rechtswidrig. Einschlägige Ermächtigungsgrundlage für seine Aufhebung ist damit § 45 SGB 10.
3. Die Rücknahme des rechtswidrigen Bewilligungsbescheides setzt nach § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 SGB 10 wenigstens grobe Fahrlässigkeit beim Nichterkennen der Rechtswidrigkeit des ergangenen Bescheides voraus. Einem selbständig tätigen SGB 2-Leistungsbezieher ist bewusst, dass Einkünfte aus seiner Tätigkeit Einfluss auf seinen Leistungsanspruch haben.
4. Die Erstattung des Leistungsträgers im Wege der Aufrechnung mit den laufenden Leistungen setzt eine hinreichende Bestimmtheit des Aufrechnungsbescheides i. S. von § 33 Abs. 1 SGB 10 voraus. Der Leistungsberechtigte muss Klarheit über den Beginn des Aufrechnungszeitraumes haben, um sich auf den Zufluss geringerer Leistungen einzustellen. Ist aus dem Bescheid nicht erkennbar, ab welchem Zeitpunkt die Aufrechnung beginnen soll, so ist er aufzuheben.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 24. Juni 2016 geändert.
Der Bescheid des Beklagten vom 24. Juli 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. November 2012 wird insoweit aufgehoben, als darin der Beklagte die Aufrechnung der Erstattungsforderung gegen die laufenden Leistungen des Klägers verfügt hat. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger ein Sechstel seiner außergerichtlichen Kosten im gesamten Verfahren zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Rechtmäßigkeit eines Aufhebungs- und Erstattungsbescheides des Beklagten, mit welchem dieser die Leistungsbewilligung für den Zeitraum 1. Juli 2011 bis 31. Oktober 2011 aufgehoben hat und die Erstattung überzahlter Leistungen iHv insgesamt 2.846,76 € fordert, nebst einer hierauf beruhenden Aufrechnungsentscheidung
Der 1986 geborene, alleinstehende Kläger ist bulgarischer Staatsangehöriger und lebt seit 2009 in Deutschland. Er verfügt über eine Bescheinigung gem. § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) iVm § 4a Abs. 1 FreizügG/EU und stand bei dem Beklagten seit August 2010 fortlaufend im Leistungsbezug. Am 26. Juni 2011 meldete der Kläger ein Gewerbe “Hotelreinigung„ unter der Firma R Hotelreinigungsservice in der Gstraße in B an. Ausweislich der Anmeldebestätigung gab der Kläger bei der Anmeldung seines Gewerbes als Aufnahme der selbständigen Tätigkeit den 1. Juni 2011 an. Die Betriebsstätte des Gewerbes wurde ab dem 22. November 2011 in die Nstraße in B verlegt.
Am 17. Juni 2011 stellte er bei dem Beklagten einen Antrag auf Weiterbewilligung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II). Im Antragsformular gab er an, über kein Einkommen zu verfügen und auch keine selbständige Tätigkeit auszuüben (Anlage EK, Punkt 1b). Durch seine Unterschrift versicherte der Kläger die Richtigkeit seiner Angaben und künftige Änderungen insbesondere der Familien-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse umgehend mitzuteilen. Er bestätigte zudem, das “Merkblatt SGB II - Grundsicherung für Arbeitsuchende (Arbeitslosengeld II/Sozialgeld)„ erhalten und von seinem Inhalt Kenntnis genommen zu haben. Der Beklagte bewilligte dem Kläger daraufhin durch Bescheid vom 21. Juni 2011 Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 1. Juli 2011 bis 31. Dezember 2011 iHv monatlich 711,69 € (Regelbedarf 364,00 €; Kosten der Unterkunft und Heizung 347,69 €). Ausweislich eines von dem Mitarbeiter des Beklagten erstellten Beratungsvermerkes über eine persönliche Vorsprache des Klägers am 22. September 2012 teilte der Kläger die Anmeldung eines Gewerbes ab dem 1. Juni 2011 mit. Er sei auf die Notwendigkeit der Vorlage der Gewerbeanmeldung und der Anlage EKS hingewiesen worden. Bei einer weiteren Vorsprache am 6. Oktober 2011 erklärte der Kläger, er habe seit August 2011 Betriebseinnahmen iHv 9.800,00 € erzielt. Mit Schreiben vom 6. Oktober 2011 mahnte der Beklagte die Vorlage der Anlage EKS bis zum 23. Oktober 2011 an, da mögliches Einkommen aus der selbständigen Tätigkeit des Klägers bei der Berechnung seines Leistungsanspruchs zu berücksichtigen sei. Mit weiterem Schreiben vom 6. Oktober 2011 forderte der Beklagte den Kläger unter Fristsetzung bis zum 23. Oktober 2011 auf, verschiedene seine selbständige Tätigkeit betreffende Unterlagen e...