Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. tätlicher Angriff. Berührungen im Rahmen einer ärztlichen Begutachtung. Sicht eines verständigen Dritten. keine Gesamtbewertung des Untersuchungsvorgangs. Erforderlichkeit einer konkreten Tätlichkeit. Erheblichkeitsschwelle. Anfassen des Knies. geringe Kraftanwendung. keine Gefahr für Leib und Leben. Begrenzung der Grundsätze zum sexuellen Kindesmissbrauch
Orientierungssatz
1. Der Anspruch auf Opferentschädigung setzt nach § 1 Abs 1 S 1 OEG einen vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriff voraus. Dies ist aus der Sicht eines objektiven vernünftigen Dritten zu beurteilen. Ein tätlicher Angriff in diesem Sinn liegt bei einer in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines Anderen zielenden gewaltsamen Einwirkung vor.
2. Eine ärztliche Begutachtung kann insgesamt nicht als ein einheitlicher schädigender Vorgang gewertet werden. Denn ein solcher umfasst nur den konkreten tätlichen Angriff und das diesem unmittelbar folgende gewaltgeprägte Geschehen (vgl zum Stalking: BSG vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R = BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18).
3. Je geringer sich die Kraftanwendung durch den Täter bei der Begehung des Angriffs darstellt, desto genauer ist zu prüfen, inwiefern durch die Handlung eine Gefahr für Leib oder Leben des Opfers bestanden hat.
4. Die Anwendung der Grundsätze des BSG für die Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern unter 14 Jahren ist auf diesen Personenkreis beschränkt (vgl BSG vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R aaO).
5. Das Anfassen eines Knies ist kein tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG, wenn hierin weder eine Körperverletzung noch eine Gesundheitsschädigung iS des § 223 StGB zu sehen ist.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 19. Oktober 2012 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch nicht für das Berufungsverfahren zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig sind Ansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).
Zugunsten der 1962 geborenen Klägerin sind ein Grad der Behinderung von 100 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen “B„ (Berechtigung für eine ständige einer Begleitung), “aG„ (außergewöhnliche Gehbehinderung), “T„ (Telebus), “H„ (Hilflosigkeit) und “RF„ (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) festgestellt (Bescheid des Beklagten vom 31. Oktober 2005). Des Weiteren bezieht sie Leistungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe II. Unter anderem war ihr im Jahr 1973 das rechte Bein wegen eines Osteosarkoms amputiert worden. 1975 erfolgte eine Teilresektion des rechten unteren Lungenlappens wegen Metastasierung.
Auf Antrag der Klägerin auf Leistungen nach der Pflegestufe III. veranlasste die Pflegekasse ein Gutachten bei dem Gutachter Dr. K. Dieser begutachtete die Klägerin in deren Wohnung am 28. Juni 2010 zwischen 11 Uhr 35 und 12 Uhr 30. In einem von ihr als “Gedächtnisprotokoll„ bezeichneten Schreiben an die Pflegekasse vom 25. Juli 2010 schilderte die Klägerin den Ablauf der Begutachtung. Nach ihrer Darstellung hatte sie Dr. K nach “Dekubitus„ gefragt. Sie, die Klägerin, habe geantwortet, darunter im Anal- und Genitalbereich sowie an ihrem Beinstumpf zu leiden. Auf Aufforderung des Gutachters Dr. K sei sie von der Pflegerin Frau T entkleidet worden. Dr. K habe dann Anstalten gemacht, den Stumpf und den Genitalbereich anzufassen. Dazu habe er sich nach vorne gebeugt und seine Hand habe sich blitzartig und ohne Vorankündigung in die Richtung ihres Schrittes geschoben. Frau T habe den Gutachter beiseite gedrängt. Der Stumpf sei so kurz, dass er in den Genitalbereich übergehe. Dr. K habe so versucht, in den Schrittbereich zu greifen, was durch Frau T habe abgewehrt werden können. Dieses Verhalten sei nicht nur eine sexuelle Belästigung, sondern gleiche einem versuchten sexuellen Übergriff, zumal Dr. K sich zuvor auch nicht seine Hände gewaschen und auch nicht gefragt habe, ob er die Klägerin anfassen dürfe. Zu Beginn der Begutachtung habe sich Dr. K das bandagierte schmerzende Knie zeigen lassen. Sie habe Dr. K darum gebeten, sie nicht anzufassen, da das Knie schmerze. Dr. K habe es dennoch angefasst und sie habe laut geschrien. Nach Kenntnisnahme von Unterlagen, aus denen sich eine Lungenoperation der Klägerin ergeben habe, habe Dr. K Frau T aufgefordert, den Oberkörper der Klägerin zu entkleiden, um sich deren Narbe anzusehen. Frau T habe angefangen, die Klägerin zu entkleiden. Da dies Dr. K zu langsam gegangen sei, habe er das T-Shirt der Klägerin ohne Vorwarnung hochgezogen, den BH geöffnet und ihr an die Narbe gefasst, die unterhalb des Busens verlaufe. Dr. K habe sie nicht gefragt, ob er sie berühren dürfe. Sie fühle sich sexuell belästigt. Dazu komme die mangelnde Hygiene, da sich Dr. K die Hände nicht gewaschen habe. Des Weiteren gingen die Lungenoper...