Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Rücknahme der Leistungsbewilligung für die Vergangenheit. Leistungsausschluss bei Aufenthalt außerhalb des zeit- und ortsnahen Bereiches ohne Zustimmung des persönlichen Ansprechpartners. Täuschung über Aufenthaltsort. Beweislastumkehr
Orientierungssatz
Zur Annahme einer Beweislastumkehr zulasten eines Empfängers von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB 2, wenn dieser Behörden und Gerichte über seinen Aufenthaltsort täuscht.
Tenor
Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts A-Stadt vom 20. August 2021 wird geändert.
Die Widerspruchsbescheide des Beklagten vom 18. März 2020 und 7. April 2020 werden aufgehoben.
Der den Kläger zu 1.) betreffende Bescheid vom 20. Februar 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. August 2019 wird aufgehoben, soweit die Leistungsbewilligung für den Monat November 2018 aufgehoben worden ist und die Erstattungssumme den Betrag von 14.735,09 € übersteigt.
Der die Klägerin zu 2.) betreffende Bescheid vom 20. Februar 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. August 2019 wird aufgehoben, soweit die Leistungsbewilligungen für die Zeit vom 1. Dezember 2014 bis 31. Januar 2015 sowie 11. November bis 31. Dezember 2018 aufgehoben worden sind und die Erstattungssumme den Betrag von 17.993,73 € übersteigt.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Kläger wenden sich gegen Aufhebungs- und Erstattungsbescheide des Beklagten vom 20. Februar 2019 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 16. August 2019, mit denen der Beklagte seine Leistungsbewilligungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeiträume von August 2016 bis Januar 2019 (Kläger zu 1.) sowie Dezember 2014 bis Januar 2015 und Juni 2016 bis Januar 2019 (Klägern zu 2.) aufgehoben und überzahlte Leistungen in Höhe von 15.059,12 € (Kläger zu 1.) bzw. 20.348,54 € (Klägerin zu 2.) geltend gemacht hat.
Die 1974 geborenen, miteinander verheirateten Kläger sind Q. Staatsangehörige. Der Kläger zu 1.) reiste bereits im Jahr 1994 unter einem Alias-Namen in die Bundesrepublik Deutschland ein, wurde im Folgejahr nach R. abgeschoben und gelangte nach einer zwischenzeitlichen Eheschließung mit einer deutschen Staatsangehörigen im Wege der Familienzusammenführung im Jahr 1996 erneut nach Deutschland. Die Ehe wurde im Jahr 2004 geschieden und im Folgejahr wurde die Ehe der Kläger geschlossen. Der Kläger zu 1.) war seit 2001 im Besitz einer unbefristeten Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Die im Jahr 2006 mit einem Besuchsvisum in das Bundesgebiet eingereiste Klägerin zu 2.) war seit 2006 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG zur Ausübung der Personensorge, welche zuletzt bis zum 13. November 2018 befristet war.
Seit April 2014 standen die Kläger mit der 2009 in A-Stadt geborenen gemeinsamen Tochter S. bei dem Beklagten im laufenden Leistungsbezug nach dem SGB II. Nach einer vorlegten Meldebestätigung des Stadtamtes A-Stadt vom 15. April 2014 waren daneben auch die gemeinsamen Kinder T. (geb. 2002 in U.), V. (geb. 2003 in U.), W. (geb. 2004 in X.) und Y. (geb. 2006 in A-Stadt) bei den Klägern gemeldet. Diese Kinder waren von der Senatorin für Bildung und Wissenschaft bis zum 31. Dezember 2016 von der gesetzlichen Schulpflicht im Bundesland A-Stadt befreit und gingen in R. zur Schule.
Nachdem der Beklagte mit Bescheid vom 12. August 2014 und Änderungsbescheid vom 22. November 2014 Leistungen für den Bewilligungszeitraum von Oktober 2014 bis März 2015 bewilligt hatte, stellte er die Leistungen Ende Januar 2015 wegen eines Auslandsaufenthalts der Kläger ein.
Am 7. März 2016 sprach der Kläger zu 1.) mit einem erneuten Leistungsbegehren bei dem Beklagten persönlich vor und gab ausweislich des Gesprächsvermerks an, dass eine Zwangsräumung seiner Wohnung bevorstehe. Die Familie habe sich zwischenzeitlich in Z. aufgehalten, die Wohnung in A-Stadt aber beibehalten. Die Kinder befänden sich in R. bei der Großmutter. Als eigene Wohnanschrift gab der Kläger in der Folgezeit an: „AA., A-Stadt“. Hierbei handelt es sich um die Anschrift des im Berufungsverfahren gehörten Zeugen C.. Der Beklagte gewährte zunächst nur vorschussweise oder vorläufig Leistungen (zuletzt mit Bescheiden vom 7., 14. und 28. Juli 2016 für den Zeitraum vom 23. Juni bis 14. August 2016 mit Vorläufigkeitsvorbehalt). Im Juli 2016 reichten die Kläger ein Mietangebot für eine Wohnung unter der Anschrift A-Straße, A-Stadt (Stadtteil
), ein und gaben an, sie müssten umziehen, da sie keine eigene Wohnung hätten und momentan bei einem Freund wohnten. Nachdem der Beklagte eine Mietübernahmebescheinigung ausgestellt hatte, mieteten die Kläger die Wohnung zum 29. September 2016 an und gaben fortan die Adresse dieser Wohnung im Schriftverkehr mit dem Beklagten an. Der Beklagte bewilligte zunächst Leistungen für den Zeitraum vom 15. A...