Entscheidungsstichwort (Thema)

Ruhen des Arbeitslosengeldanspruchs bei Entlassungsentschädigung. ordentliche Unkündbarkeit. Anwendung der fiktiven Kündigungsfrist. tarifvertragliche Zulässigkeit der Kündigung bei Betriebsänderung. freiwilliger Aufhebungsvertrag. erzwingbarer Sozialplan. - siehe dazu anhängiges Verfahren beim BSG: B 11 AL 16/17 R

 

Orientierungssatz

Die fiktive Kündigungsfrist von einem Jahr gemäß § 143a Abs 1 S 4 SGB 3 ist auch dann anzuwenden, wenn die Aufhebung des tarifvertraglichen Sonderkündigungsschutzes bei Betriebsänderungen iS von § 111 BetrVG möglich ist, eine Betriebsänderung aber nicht ausdrücklich vom Arbeitgeber festgestellt und kein Sozialplan erstellt worden ist, sondern der Abschluss eines freiwilligen Aufhebungsvertrages als Vorgriff einer betriebsbedingten Kündigung wegen geplantem Personalabbaus erfolgte, da nach § 112a Abs 1 S 2 BetrVG auch das aus Gründen der Betriebsänderung veranlasste Ausscheiden von Arbeitnehmern aufgrund von Aufhebungsverträgen als Betriebsänderung gilt.

 

Normenkette

SGB III § 143a Abs. 1 Sätze 1, 3 Nrn. 1-2, S. 4, Abs. 2 S. 4 Fassung: 2003-12-13; BetrVG §§ 111, 112a Abs. 1 S. 2, § 77 Abs. 3 S. 1; KSchG § 17; SGB X § 44 Abs. 1 S. 1, Abs. 2

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 30.08.2018; Aktenzeichen B 11 AL 16/17 R)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 14. März 2014 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin in der Berufungsinstanz.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte zu Recht den Eintritt des Ruhens eines Arbeitslosengeld(Alg)-Anspruchs der Klägerin nach dem Sozialgesetzbuch, Drittes Buch (SGB III) festgestellt hat.

Die 1957 geborene Klägerin hat nach dem Ablegen der Mittleren Reife den Beruf der Bankkauffrau bei der H. N. AG erlernt und war bei dieser seither fortlaufend beschäftigt, zuletzt mit einem Bruttogehalt von 4.549,26 EUR. Am 23. Dezember 2009 meldete sie sich bei der Beklagten arbeitslos zum 1. Januar 2010. Das Arbeitsverhältnis wurde durch Aufhebungsvertrag vom 12. Mai 2009 zum 31. Dezember 2009 beendet. Für den Verlust des Arbeitsplatzes erhielt die Klägerin eine Abfindung von insgesamt 191.603,39 EUR brutto. Seit dem 1. Juni 2010 ist die Klägerin selbstständig tätig. Vorgelegt wurden von ihr der Aufhebungsvertrag sowie die Arbeitsbescheinigung. Ferner erläuterte die Klägerin die Beendigung des Arbeitsverhältnisses und die Gründe für den Abschluss des Aufhebungsvertrages. Anforderungsgemäß übersandte die H. N. AG des Weiteren einen weiteren Fragebogen zur Kündigung. Mit Bescheid vom 4. Februar 2010 erfolgte eine vorläufige Bewilligung von Alg. Mit Änderungsbescheid vom 17. Februar 2010 erfolgte die endgültige Festsetzung des Leistungsanspruchs unter Berücksichtigung der Feststellung einer Sperrzeit vom 1. Januar 2010 bis 25. März 2010 sowie eines Ruhens des Anspruchs vom 1. Januar 2010 bis 22. Oktober 2010. Ebenfalls mit Bescheid vom 17. Februar 2010 setzte die Beklagte den Eintritt einer Sperrzeit vom 1. Januar 2010 bis 25. März 2010 fest. Mit weiterem Bescheid vom 17. Februar 2010 stellte die Beklagte das Ruhen des Alg-Anspruchs vom 1. Januar 2010 bis 22. Oktober 2010 fest. Zur Begründung führte sie an, dass die Klägerin von ihrem Arbeitgeber eine Abfindung erhalten habe und dass ihr Anspruch bis zum 22. Oktober 2010 ruhe, weil der Arbeitgeber ihr hätte nicht kündigen dürfen. Sie erläuterte weiter die Berechnung des Ruhenszeitraums. Gegen sämtliche Bescheide vom 17. Februar 2010 hat die Klägerin Widerspruch erhoben. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass ihr ein wichtiger Grund für die Lösung des Beschäftigungsverhältnisses zur Seite gestanden habe, da ihr zum gleichen Zeitpunkt eine arbeitgeberseitige Kündigung gedroht hätte. Diese wäre wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage der H. N. AG unumgänglich und unangreifbar gewesen. Zur Abfederung der Nachteile der betroffenen Arbeitnehmer sei die Konzernbetriebsvereinbarung (KBV) “Ausscheiden gegen Abfindungszahlung„ geschlossen worden, der sich die Klägerin angeschlossen habe. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus § 17 des Tarifvertrages (Tarifverträge für das private Bankgewerbe und die öffentlichen Banken Stand April 2009 Teil I Manteltarifvertrag (MTV)). Ein die Kündigung rechtfertigender Grund liege vor; die Frist von sechs Monaten sei eingehalten worden. Die Beschäftigungslosigkeit sei nicht zu vermeiden gewesen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei ihr ein Abwarten der drohenden rechtmäßigen Arbeitgeberkündigung nicht zumutbar.

Mit Widerspruchsbescheid vom 26. Mai 2010 wies die Beklagte den Widerspruch betreffend die Sperrzeitentscheidung zurück. Die Sperrzeitvoraussetzungen lägen vor. Ein wichtiger Grund sei nicht gegeben, weil nach Auskunft des Arbeitgebers das Beschäftigungsverhältnis weder früher noch zum gleichen Zeitpunkt des Aufhebungsvertrages durch Kündigung beendet worden wäre. Die Klägerin sei unkü...

Dieser Inhalt ist unter anderem im SGB Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge