Entscheidungsstichwort (Thema)

Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für einen türkischen Staatsangehörigen durch einstweiligen Rechtsschutz

 

Orientierungssatz

1. Der Leistungsausschluss des § 23 Abs. 3 S. 1 SGB 12 ist auf Staatsangehörige der Signatarstaaten des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) wegen des Gleichbehandlungsgebots aus Art. 1 EFA nicht anwendbar. Dies gilt sowohl hinsichtlich des Zwecks der Arbeitsuche als auch desjenigen des Sozialhilfebezugs.

2. Art. 1 EFA stellt mit dem Tatbestandsmerkmal "erlaubt" allein auf die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts ab. Danach kommt es nicht darauf an, dass der Antragsteller womöglich nach Deutschland eingereist ist, um Sozialhilfe zu erlangen, weil er sich auf das Inländergleichbehandlungsgebot aus Art. 1 EFA berufen kann.

3. Ein Ausländer hält sich dann erlaubt i. S. des Art. 1 EFA i. V. m. Art. 11 Abs. a S. 1 EFA in Deutschland auf, wenn er zwar nicht im Besitz einer gültigen Aufenthaltserlaubnis ist, ihm aber eine Erlaubnisfiktion nach § 81 Abs. 3 AufenthG erteilt worden ist.

4. Begehrt der Antragsteller Leistungen des SGB 12 nach dem 4. Kapitel des SGB 12 im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes, so ist bei Vorliegen der weiteren gesetzlichen Voraussetzungen die zu erlassende Regelungsanordnung in zeitlicher Hinsicht zu begrenzen auf spätestens den Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Die Aufenthaltsfiktion nach § 81 Abs. 3 S. 1 AufenthG gilt nur bis zu diesem Zeitpunkt. Ob sich der Antragsteller danach weiterhin "erlaubt" i. S. des Art. 1 EFA im Bundesgebiet aufhalten wird, bleibt offen.

 

Tenor

Die Antragsgegnerin wird im Weg der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ab dem 17. September 2014 bis zum rechtskräftigen Abschluss des bei der Antragsgegnerin anhängigen Widerspruchsverfahrens, längstens jedoch bis zum Entscheidung der Ausländerbehörde der Antragsgegnerin über den Antrag der Antragstellerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dem AufenthG vorläufig Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII ohne Berücksichtigung von Unterkunfts- und Heizkosten sowie Hilfe bei Krankheit zu gewähren.

Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller zu erstatten.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten im Rahmen des gerichtlichen Eilrechtschutzes um die Gewährung lebensunterhaltssichernder Leistungen nach dem SGB XII für die Zeit ab dem 17. September 2014, dem Eingang des vorliegenden Antrages beim Sozialgericht Braunschweig.

Die am 6. April 1936 geborene Antragstellerin ist türkische Staatsangehörige. Sie leidet an Diabetes Typ 2, Bluthochdruck, retraktiler Gelenkentzündung und Dyslipidämie und bedurfte bereits in Belgien vom 13. Februar 2012 bis zum 5. März 2012 einer eingehenden stationären ärztlichen Behandlung. Sie ist seit 2003 verwitwet. Ob ihr abgeleitet von ihrem verstorbenen türkischen Ehemann Rentenansprüche nach dem türkischen Recht zustehen, ist noch nicht endgültig geklärt und kann kurzfristig auch nicht geklärt werden. Die Antragstellerin reiste im Jahr 2006 nach Belgien ein und lebte dort von 2007 bis 2012 bei ihrem Sohn C. und dessen Ehefrau, einer belgischen Staatsangehörigen, von der sie auch ihren belgischen Aufenthaltstitel ableitet. Ihr wurde in Belgien eine Daueraufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers, aktuell gültig bis zum 7. Januar 2016, ausgestellt, nicht jedoch ein Aufenthaltstitel “Daueraufenthalt-EG„, “Résident de longue durée - CE„ bzw. “EG-langdurig ingezetene„. Nach den Darstellungen der Antragstellerin hatte sie schon in Belgien Sozialhilfe vergleichbar mit deutschen Verhältnissen bezogen, Krankheitskosten seien über die Sozialbehörde abgewickelt worden. Sie habe in Belgien werden Einkommen noch Vermögen gehabt. 2012 sei ihr Sohn C. in die Türkei gegangen. Ab 2012 habe sie mit ihrem Sohn D. eine eigene Wohnung gehabt. D. sei 2013 nach Deutschland gegangen. In der Zeit danach sei sie zeitweise von sozialen Einrichtungen in Belgien und von ihrer in Braunschweig lebenden Tochter E. und deren Sohn F. gepflegt und versorgt worden; diese seien mehrmals im Monat nach Belgien gefahren, um Besorgungen für sie zu erledigen. Zwischenzeitlich hatte sich die Antragstellerin in Mersin/Türkei aufgehalten, weil dort am 6. Januar 2014 ihr aktueller Nationalpass/Reisepass ausgestellt wurde. Bei wem und in welchem Zeitraum sie sich dort aufgehalten hatte, ist nicht abschließend geklärt; hierzu trägt die Antragstellerin vor, ihre Schwester G. in der Türkei besucht zu haben.

Am 5. August 2014 reiste die Antragstellerin aus Malmedy in Belgien kommend in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie beantragte am 11. August 2014 bei der Ausländerbehörde der Antragsgegnerin die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Am 26. August 2014 stellte die Ausländerbehörde der Antragstellerin eine Fiktions...

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