Bedeutung des OECD-Musterkommentars für die DBA-Auslegung

Welche Bedeutung hat der OECD-Musterkommentar für die Auslegung von Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung (DBA)? Das BMF hat Stellung bezogen und sich in Widerspruch zur Rechtsprechung des BFH gestellt.

Die OECD hat ein Musterabkommen für DBA geschaffen, welches jedoch nicht von den jeweiligen Vertragsparteien umgesetzt werden muss, wenn sie ein DBA abschließen oder ändern wollen. In der Praxis weichen auch die DBA, die Deutschland abgeschlossen hat, mehr oder weniger von diesem DBA ab. Die Gründe hierfür sind vielfältig.

OECD-Musterabkommen und -Musterkommentar

Neben dem Musterabkommen gibt es einen Musterkommentar der OECD, der die Auslegung von des Musterabkommens zum Gegenstand hat. Sowohl Musterabkommen als auch Musterkommentar werden immer wieder geändert. Es stellt sich dann die Frage, ob die geänderte Rechtsauffassung bei der Auslegung von Rechtsfragen heranzuziehen ist. Der BFH hat dieser sog. dynamischen Abkommensauslegung seine Zustimmung verwehrt. Das BMF ist anderer Auffassung.

BFH zum OECD-Musterkommentar

Der BFH befasste sich bereits mit Urteil vom 11.07.2018 - I R 44/16, mit der Frage, welche Bedeutung der OECD-Musterkommentar für die Auslegung von DBA hat. Die Finanzverwaltung hat diese Thematik nun aufgegriffen und in einem Schreiben erläutert.

Bedeutung des BMF-Schreibens

Die Bedeutung des BMF-Schreibens erschließt sich dem Leser, der sich nicht öfter mit dem internationalen Steuerrecht befasst, nicht sofort. Sofort ins Auge springt aber, dass auf das BFH-Urteil aus dem Juli 2018 Bezug genommen wird, das bislang nicht im BStBl. veröffentlicht wurde (jetzt aber soll). Es stellt sich die Frage, warum das BMF fast fünf Jahre für dieses Schreiben benötigt hat und warum es jetzt veröffentlicht wird. Zudem steht es im Widerspruch zu den Aussagen in dem besagten BFH-Urteil, wird aber nicht als Nichtanwendungserlass bezeichnet.

Die Tendenz, die in dem BMF-Schreiben zum Ausdruck kommt, ist indes nicht neu. Die Praxis, DBA nachträglich durch nationale Gesetze oder Verwaltungsverlautbarungen zu "durchbrechen" – man spricht hierbei vom einen treaty-override – hat leider in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. Insofern ist die Aussage des BMF nicht wirklich überraschend. Der Rechtssicherheit dient sie sicherlich nicht. Wünschenswert wäre es, ein treaty-override zu untersagen – zu rechnen ist damit indes nicht .

Inhalt des BMF-Schreibens

Der wesentliche Inhalt des BMF-Schreibens lässt sich wie folgt zusammenfassen:

  • Einleitend wird auf das BFH-Urteil vom 11.7.2018 verwiesen. Diese wird zwar nicht explizit, aber tatsächlich durch die nachfolgenden Äußerungen für nicht anwendbar erklärt.
  • Der OECD-Musterkommentar ist ein widerlegliches Indiz für die Staatenpraxis bei der Auslegung des OECD-MA. Dieser wird regelmäßig aktualisiert.
  • Der OECD-Rat empfiehlt, die jeweils aktuelle Fassung zu befolgen.
  • Hat ein OECD-Staat keine von der Musterkommentierung abweichend Rechtsauffassung hinterlegt und gibt es auch keine anderen Indizien für eine abweichende Rechtsauffassung, kann angenommen werden, dass der jeweilige Staat die Auffassung in der Musterkommentierung teilt.
  • Art. 31 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge regelt, dass spätere Übereinkünfte der Vertragsparteien bei der Auslegung des Vertrages oder seiner Anwendung zu berücksichtigen sind. Dies gilt auch für spätere Übungen und eine Staatenpraxis.
  • Hieraus folgt, dass bei der Auslegung von Abkommen keine Festlegung ("Einfrieren") auf den Zeitpunkt des ersten Abschlusses erfolgt.
  • Für die Staatenpraxis bedeutet dies, dass nationale spätere Rechtsakte zu einer geänderten Staatenpraxis führen können.
  • Der OECD-Musterkommentar ist damit in seiner zum Anwendungszeitpunkt geltenden Fassung anzuwenden.
  • Für Deutschland bedeutet dies, dass sich ein anderes Abkommensverständnis insbesondere aus einem BMF-Schreiben oder einer sonstigen Verwaltungsanweisung ergeben kann. Diese haben Vorrang vor den Aussagen des Musterkommentar.

BMF, Schreiben v. 19.4.2023, IV B 2 - S 1301/22/10002 :004


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